Kirsten Fuchs' Icherzählerinnen tauchen in fremde Welten ein, die sie selten
selbst gewählt haben. In "La Shukran" besucht die Erzählerin zu
Weihnachten gemeinsam mit ihrem Partner eine Freundin, die seit kurzem an der
deutschen Botschaft in Damaskus arbeitet. Das Paar verspricht sich von der Reise
eine Flucht aus deutscher Weihnachtsseligkeit. Die Konsequenzen werden ihnen
erst deutlich, als sie mit dem Visum für Syrien im Pass ein Jahr später nach
New York einreisen wollen. In der Gegenwart kocht Freundin Anja zunächst
rücksichtsvoll gewürzt für ihre Besucher, während alle darauf warten, dass
deren Verdauung gegenüber der ungewohnten Ernährung revoltieren wird. Auf dem
Bazar sieht sich die Erzählerin mit lokalen Sitten konfrontiert. Als Verwalter
des Geldbeutels werden dort nur Männer begrüßt. Bazar, Hamam, Ausflug in die
Wüste, das touristische Programm für den Besuch wird durchgezogen, hinterlegt
mit dezentem Spott über die regionalen Sitten, soweit man sich traut, über ein
muslimisches Land zu spotten.
"Signalstörung" führt an einen Arbeitsplatz, an dem Notfallpläne
für Sonderzüge mit Flüchtlingen aufgestellt werden. Eine der Angestellten
assoziiert mit ihrer Tätigkeit Lager und Stacheldraht, weil auch ihre Eltern
bei ihrer Ankunft in Deutschland in einem Lager untergebracht waren. Hier habe
ich mich gefragt, ob die Geschichte in einer nahen Zukunft spielen könnte, in
der verschiedene Bevölkerungsgruppen miteinander kommunizieren wie ein
Eisenbahnsystem, in dem ständig zwischen zwei Spurweiten gewechselt wird. Da
für mich im Rückblick auf die deutsche Geschichte Eisenbahn auch Handlanger
von Diktaturen gewesen ist, empfand ich die Geschichte als höchst makaber. Auch
Valentin hat mit Eisenbahn-Symbolik zu tun. In seinem Heimatort halten Züge
nicht, die Bewohner wandern ab. Valentins Elternhaus scheint ihm zuzurufen: zieh
her, reparier mich, schätze mich, während die Natur sich Haus und Garten
zurückholt. (Erbe)
In "Nachtschrank" sucht eine Mutter ihr Tagebuch; denn sie soll einen
Artikel über die ehemalige DDR schreiben. Das Land, das nicht mehr existiert
und das ihre Tochter nicht kennt, bereitet ihr als Thema Schwierigkeiten. Der
frühere Zwang, die DDR toll finden zu müssen wird abgelöst durch den neuen
Zwang, die Vergangenheit kritisch sehen zu müssen. Der Bogen schließt sich;
denn der Mann vom Schlüsseldienst, der ihr Tagebuch rettet, stammt aus
Rumänien. Auch seine Heimat ist ein Land, an das es nur noch Erinnerungen gibt.
"Besuch aus Moskau" beschreibt eine Zeit, in der Slip-Einlagen noch
keine Lifestyle-Produkte waren, mit denen eine Frau Reiten, Tennis und Golf
spielen sollte, und die Menstruation Ost mit kratzigen Hygieneartikeln Frauen zu
einem verräterischen Watschelgang zwang. Kurze Zeit nach der ersten Regel
erklärt nach der Wende BRAVO der Generation der Verfasserin, was ein richtiges
Mädchen ist. Das Alter der Icherzählerin stellt hier Verbindung zur Biografie
der gleichaltrigen Kirsten Fuchs her. "Brückentag" erzählt die
Geschichte einer Stadtrandgemeinde, geprägt durch eine neu gebaute Schule und
ein "Irrenhaus", in der in der Kindheit der Erzählerin Russische
Besatzungstruppen eine Klappbrücke bauten.
"Keinjobcenter" folgt einer Autorin, deren Roman zum Abgabetermin
nicht rechtzeitig fertig geworden ist. Als so genannte Aufstockerin gerät sie
in die Mühlen des Jobcenters, benötigt unerwartet Hilfe beim Ausfüllen von
Formularen und erhält rückwirkend Leistungen, als ihre finanzielle
Durststrecke gerade aus eigener Kraft überwunden zu sein scheint. Mit der
Frage, wie Betroffene klarkommen, die nicht nach 6 Monaten wieder allein
zurechtkommen, und einer leichten Gänsehaut bleiben hier die Leser zurück.
Fazit
Kirsten Fuchs' Figuren treten zum großen Teil als Icherzählerinnen auf. Es
sind Frauen in den Vierzigern, in Deutschland und anderswo mit fremden Welten
konfrontiert. Die Fremdheit kann die Form von Bürokratie annehmen, von anderen
Menschen, die besser klarzukommen scheinen als die Figuren selbst, aber auch von
Männerbünden, die sich mit großen, scharfen Hunden in entlegenen Landstrichen
verschanzen. Fuchs‘ Icherzählerinnen schaffen Distanz, geben nicht alles von
sich preis, aber ihnen ist gemeinsam, dass sie mit beiden Beinen in diesem
Jahrhundert stehen.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 07. Mai 2018 2018-05-07 08:38:51