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Kirsten Fuchs: Signalstörung

Signalstörung

von Kirsten Fuchs
Verlag: Rowohlt Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-7371-0044-1

Preis: 18,00 Euro bei Amazon.de [Stand: 20. November 2024]
Kirsten Fuchs' Icherzählerinnen tauchen in fremde Welten ein, die sie selten selbst gewählt haben. In "La Shukran" besucht die Erzählerin zu Weihnachten gemeinsam mit ihrem Partner eine Freundin, die seit kurzem an der deutschen Botschaft in Damaskus arbeitet. Das Paar verspricht sich von der Reise eine Flucht aus deutscher Weihnachtsseligkeit. Die Konsequenzen werden ihnen erst deutlich, als sie mit dem Visum für Syrien im Pass ein Jahr später nach New York einreisen wollen. In der Gegenwart kocht Freundin Anja zunächst rücksichtsvoll gewürzt für ihre Besucher, während alle darauf warten, dass deren Verdauung gegenüber der ungewohnten Ernährung revoltieren wird. Auf dem Bazar sieht sich die Erzählerin mit lokalen Sitten konfrontiert. Als Verwalter des Geldbeutels werden dort nur Männer begrüßt. Bazar, Hamam, Ausflug in die Wüste, das touristische Programm für den Besuch wird durchgezogen, hinterlegt mit dezentem Spott über die regionalen Sitten, soweit man sich traut, über ein muslimisches Land zu spotten.

"Signalstörung" führt an einen Arbeitsplatz, an dem Notfallpläne für Sonderzüge mit Flüchtlingen aufgestellt werden. Eine der Angestellten assoziiert mit ihrer Tätigkeit Lager und Stacheldraht, weil auch ihre Eltern bei ihrer Ankunft in Deutschland in einem Lager untergebracht waren. Hier habe ich mich gefragt, ob die Geschichte in einer nahen Zukunft spielen könnte, in der verschiedene Bevölkerungsgruppen miteinander kommunizieren wie ein Eisenbahnsystem, in dem ständig zwischen zwei Spurweiten gewechselt wird. Da für mich im Rückblick auf die deutsche Geschichte Eisenbahn auch Handlanger von Diktaturen gewesen ist, empfand ich die Geschichte als höchst makaber. Auch Valentin hat mit Eisenbahn-Symbolik zu tun. In seinem Heimatort halten Züge nicht, die Bewohner wandern ab. Valentins Elternhaus scheint ihm zuzurufen: zieh her, reparier mich, schätze mich, während die Natur sich Haus und Garten zurückholt. (Erbe)

In "Nachtschrank" sucht eine Mutter ihr Tagebuch; denn sie soll einen Artikel über die ehemalige DDR schreiben. Das Land, das nicht mehr existiert und das ihre Tochter nicht kennt, bereitet ihr als Thema Schwierigkeiten. Der frühere Zwang, die DDR toll finden zu müssen wird abgelöst durch den neuen Zwang, die Vergangenheit kritisch sehen zu müssen. Der Bogen schließt sich; denn der Mann vom Schlüsseldienst, der ihr Tagebuch rettet, stammt aus Rumänien. Auch seine Heimat ist ein Land, an das es nur noch Erinnerungen gibt.

"Besuch aus Moskau" beschreibt eine Zeit, in der Slip-Einlagen noch keine Lifestyle-Produkte waren, mit denen eine Frau Reiten, Tennis und Golf spielen sollte, und die Menstruation Ost mit kratzigen Hygieneartikeln Frauen zu einem verräterischen Watschelgang zwang. Kurze Zeit nach der ersten Regel erklärt nach der Wende BRAVO der Generation der Verfasserin, was ein richtiges Mädchen ist. Das Alter der Icherzählerin stellt hier Verbindung zur Biografie der gleichaltrigen Kirsten Fuchs her. "Brückentag" erzählt die Geschichte einer Stadtrandgemeinde, geprägt durch eine neu gebaute Schule und ein "Irrenhaus", in der in der Kindheit der Erzählerin Russische Besatzungstruppen eine Klappbrücke bauten.

"Keinjobcenter" folgt einer Autorin, deren Roman zum Abgabetermin nicht rechtzeitig fertig geworden ist. Als so genannte Aufstockerin gerät sie in die Mühlen des Jobcenters, benötigt unerwartet Hilfe beim Ausfüllen von Formularen und erhält rückwirkend Leistungen, als ihre finanzielle Durststrecke gerade aus eigener Kraft überwunden zu sein scheint. Mit der Frage, wie Betroffene klarkommen, die nicht nach 6 Monaten wieder allein zurechtkommen, und einer leichten Gänsehaut bleiben hier die Leser zurück.
Fazit
Kirsten Fuchs' Figuren treten zum großen Teil als Icherzählerinnen auf. Es sind Frauen in den Vierzigern, in Deutschland und anderswo mit fremden Welten konfrontiert. Die Fremdheit kann die Form von Bürokratie annehmen, von anderen Menschen, die besser klarzukommen scheinen als die Figuren selbst, aber auch von Männerbünden, die sich mit großen, scharfen Hunden in entlegenen Landstrichen verschanzen. Fuchs‘ Icherzählerinnen schaffen Distanz, geben nicht alles von sich preis, aber ihnen ist gemeinsam, dass sie mit beiden Beinen in diesem Jahrhundert stehen.
8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne
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Vorgeschlagen von Helga Buss [Profil]
veröffentlicht am 07. Mai 2018

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