Dringlicher Roman über die Verflechtungen in Deutschland nach dem zweiten
Weltkrieg
Nicht nur, weil ein ungeklärter Todesfall den Anfang des Romans mitbestimmt,
auch was den Spannungsbogen angeht, hat dieser neue Roman von Claire Winter
deutliche Tendenzen in den Kriminal- und Thriller-Bereich. Was bereits der
Prolog in den Raum setzt. Dieses konspirative Treffen unbekannter Männer, 1945
irgendwo im Allgäu. Das wirkt geheim, und geheimdienstliche Verbindungen werden
sich Stück für Stück im journalistischen Recherchegeschehen, das den roten
Erzählfaden des Romans in Person der Journalistin Vera Lessing, trägt.
"Dass er trotz allem immer an Gerechtigkeit geglaubt hatte, erschien ihm
jetzt wie blanker Hohn. Wenn alles stimmte... die Öffentlichkeit musste davon
erfahren".
So denkt der Journalist Jonathan, als er brisantes Material zu Gesicht bekommt.
Mehr als einen Brief an seine Freundin Vera mit Andeutungen und Hinweisen aber
wird es nicht geben. Dieser Brief aber ist bei der Richtigen gelandet, denn zäh
wird sich Vera an all das hängen und keine Ruhe geben, so drängend die
persönliche Gefahr für sie selbst auch mit jedem Schritt werden wird.
Ein stückweit düster, vor allem aber mit klaren Schritten und durchgehend
angenehmem Tempo erzählt dabei Claire Winter von Vera und anderen
Protagonisten, die an der Schnittstelle einer zerstörten Welt und einer Welt im
Aufbau mehr und mehr, sei es durch "den Fall", sei es durch die eigene
Familie, sei es durch das Erleben einer Betroffenen, die "Verbindungen der
Schuld" zwischen beiden Systemen, dem dritten Reich und der neuen Republik,
erfahren müssen, wie wenig sich unter der Oberfläche der "Macht"
wirklich geändert hat und welche Menschen es geschickt oder durch Protektion
verstanden haben, nahtlos an ihre Zeit im dritten Reich nun anzuknüpfen.
"Marie verspürte Schuldgefühle, beinah kam sie sich vor wie eine
Verräterin, weil niemand wusste, dass sie überhaupt zu diesem Prozess gefahren
war, nicht einmal, dass sie überhaupt nach Nürnberg gefahren war".
Nürnberg, Ort des Prozesses gegen die Nazi-Größen, aber auch gegen
Handlanger. Und einen davon, der steht ihrer Familie nah. Auch Marie will
wissen, was genau geschehen ist, was ihr Vater vielleicht weiß, und nicht
sagt.
So hindert die Vergangenheit, die traumatisiert, die jedem ein Gefühl von
Schuld mit auf den Weg gibt, die Hauptpersonen des Romans zunächst an dem, was
sie am dringendsten wollen, nämlich einen Strich ziehen und die Zukunft
gestalten. In dieser inneren Situation der fassbaren Personen im Roman spiegelt
Winter hintergründig die Verfassung der ganzen Zeit. Dieses "Rette sich
wer kann", dieses erleichtert sein, aber auch, mit Recht, bang nach hinten
schauen und diese große Sehnsucht, neu anfangen zu können, in Frieden.
Doch Gerechtigkeit ist etwas, was zumindest die wichtigen Akteure im Romane für
diesen inneren Frieden benötigen, Seite für Seite. Und damit auch ein Stück
"gegen das System" sich stellen, das in nicht wenigen Richtungen
lieber einen Generalstrich ad hoc unter alles ziehen wollen. Die
"offizielle Seite" des "Unterschlüpfens" alter Beteiligter
im neuen Gewandt, dies vollzieht Vera im Roman, die Verstrickungen des
"normalen Menschen" in all das und wie auch diese versuchen, dies
durch Schweigen ungeschehen zu erklären, dieser Strang ist für Marie im Roman
vorbehalten.
Fazit
Flüssig zu lesen, fundiert recherchiert, atmosphärisch dicht und spannend,
eine klare Leseempfehlung.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 25. März 2018 2018-03-25 12:37:08