"Drei russische Sprichwörter: "Liebe deinen Nachbarn, aber bau dir
eine Mauer." "Der Weg zur Kirche ist eisig; das is auch der Weg zur
Kneipe, aber ich werde vorsichtig gehen." "Wenn du in einen Kampf
verwickelt bist, ist das nicht der Augenblick, dir das Haar zu scheiteln."
In diesen Weisheiten steckt die ganze Widersprüchlichkeit des russischen Wesens
- eine angeborene religiöse Leidenschaft, gemildert durch die Skepsis
gegenüber menschlichen Motiven; Achtung vor dem Protokoll und ein schlaues
Umgehen desselben; eine geradlinige Logik, nach der es für die meisten dinge
einen Ort und eine Zeit gibt, für die guten wie für die schlechten."
So beginnt eine der faszinierendsten Bücher über Russland, die ich kenne: die
Annäherung, die der im April 2004 verstorbene grossartige Schauspieler Sir
Peter Ustinov an Russland vor nun über 15 Jahren, im Jahre 1988, publiziert
hat.
Nur ein Kosmopolit, wie es Peter Ustinov gewesen ist, der russische Vorfahren
hatte (sein Großvater ging als junger Mann nach Sibirien), kann eine so
warmherzige Annäherung an dieses große Reich geben, welches dem westlichen
Beobachter bis heute ein Rätsel geblieben ist. Ustinov beschreibt Alltag in der
Sowjetunion, geht auf wichtige Aspekte der russischen Geschichte und Kultur,
seiner Literatur ein und beschriebt liebevoll die zum Teil widersprüchlichen
Eigenschaften dieses Landes. So heißt es etwa auf S. 34: "Für den Russen
ist sein Heimatland der Fels, an den er sich klammert. Jeder Schritt, der ihn
davon entfernt, ist eine Strafe, jede Rückkehr ein Fest. Als Primo Levi, der
große italienische Schriftsteller, von den Russen aus Ausschwitz befreit wurde,
beobachtete er, wie die Soldaten der Roten Armee in für sie typischer Weise
Richtung Heimat strebten, nämlich wie eine große Schar ungebärdiger
Schuljungen, die froh sind, dem Klassenzimmer entronnen zu sein." Lois
Fisher-Ruge, die bekannte Russland-Journalistin, die das Vorwort zu diesem
wunderbaren Bildband geschrieben hat, schreibt zu recht: "Seine Sympathie
und seine Liebe für das Land seiner Vorfahren lassen ihn alles weniger kritisch
und auch versöhnlicher sehen als den durchschnittlichen westlichen Beobachter.
ich möchte ein Beispiel für Ustinovs Umgang mit kontroversen Fragen anführen:
"Wenn Rußland expansionistisch erscheint, dann nur aus dem einen Grunde,
weil es besessen ist von dem Gedanken an seine Verteidigung. Warum? Nun,
Rußland wurde sehr viel häufiger angegriffen, als es selbst angegriffen hat.
Zugegebermaßen hat es aber gelegentlich seine unmittelbaren Nachbarn
überfallen...""
Sein Ziel, dieses von ihm geliebte Land zu erklären und dem westlichen Leser
vorzustellen, Barrieren abzubauen und gegenseitiges Verständnis zu fördern,
gemäß seinem Motto: "Wir alle haben sehr viel mehr voneinander zu lernen,
als einander beizubringen" ist Ustinov in hervorragender Weise
nachgekommen.
Besser als viele "trockene" Geschichtsdarstellungen gelingt es ihm,
Wesen, Werte und Kultur dieses riesigen Landes nahezubringen.
Sein Tod war ein Anlass, dieses großartige und reich illustrierte Buch erneut
durchzulesen, welches ich für eine der besten Länderkunden halte, die ich
kenne. Selten habe ich eine gefühlvollere und bessere Einführung in die
russische Geschichte gelesen.
Fazit
Ustinov hat dazu beigetragen, die Liebe zu diesem großen Land und seiner Kultur
zu wecken. Für mich wird dieses Buch immer eines meiner Lieblingsbücher
bleiben und ich kann es unbedingt auch heute noch jedem Russland-Interessierten
empfehlen.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 05. April 2004 2004-04-05 12:38:03