Oliver Sacks zeigt sich in seinem letzten Buch noch einmal als ungeheuer
vielseitiges naturwissenschaftliches Ausnahmetalent. Nur weil er sich mühelos
zwischen Medizin, Evolutionsgeschichte, Neurowissenschaften, Botanik, Literatur
und Kunst bewegen konnte, waren seine Beobachtungen menschlichen Verhaltens
möglich. So wundert es nicht, dass Sacks Charles Darwin verehrte, einen
Forscher, der sich stärker für das Wie und Warum interessierte als für das
Was. Darwin steht dabei stellvertretend für die Eigenheit von Wissenschaft,
dass sie zuerst beobachtet und beschreibt und diese Beobachtungen oft erst Jahre
später interpretiert werden können. Auch Freud war als Neurologe und Anatom
ähnlich vielseitig gebildet wie Sacks und prägte damit unser heutiges
Verständnis des menschlichen Gehirns. Deutlich wird in diesen Texten, dass
Sacks aufgrund seiner interdisziplinären Sichtweise seine Patienten anders
wahrnehmen konnte als jemand, der nur Mediziner gewesen wäre. So erkannte Sacks
die Störung des Raum- und Zeitempfindens bei Parkinson-Patienten aufgrund
seiner Lektüre von H.G. Wells.
Beeindruckend auch, wie Sacks sein Erleben als Patient in seine Forschung
einfließen ließ. Dazu gehören neben der Geschichte seiner Gesichtsblindheit
und seiner Krebserkrankung Aufzeichnungen über akustische Missverständnisse,
als er im Alter sein Hörvermögen verlor. Neu war für mich hier ein Aufsatz
über Verfälschung der eigenen Erinnerungen, unbewusste Plagiate und unseren
Glauben an das, was wir erzählen. Mit der Weisheit des Alters ist Sacks in der
Lage anzuerkennen, dass ein Wissenschaftler oft "auf den Schultern von
Riesen steht", also von der Forschung voriger Generationen profitiert, ohne
das aus seiner Perspektive unbedingt erkennen zu können.
Oliver Sacks letztes Buch wurde posthum von seinen Mitarbeitern Kate Edgar,
Daniel Frank und Bill Hayes herausgegeben. Der britische Neurologe stammte aus
einer Familie von Naturwissenschaftlern, beide Eltern und Sacks drei Brüder
waren ebenfalls Mediziner. Sacks empathische Beobachtungsgabe und seine
populären Fallgeschichten machten ihn einem breiten Leserkreis bekannt. Er
konnte die Beziehung zwischen Medizinern und Patienten nachhaltig verändern,
indem er sich aus seiner Perspektive als Patient auch kritisch mit dem Erleben
des Patienten im Krankenhaus befasste.
Fazit
"Der Strom des Bewusstseins" lässt sich als Sacks rückblickende
Würdigung seiner Kindheit in einer Arztfamilie lesen, aber auch als Anerkennung
der Fußstapfen von Kollegen, in die Forscher bei ihrer Arbeit treten. Die
Kenntnis der Fallgeschichten oder seiner biografischen Texte ist für das
Verständnis dieses Bandes hilfreich.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 28. November 2017 2017-11-28 08:15:24