Dichter und Denker aus der Sichtweise der "Welt" hergesehen
Einerseits heiß es traditionell über Deutschland, es sei "das Volk der
Dichter und Denker". Goethe, Schiller, Mann und dutzende andere Literaten
gelten als "kulturelle Nationalheiligtümer" und Vorreiter und
Begründer des "Deutschen" an sich. Und andererseits war zu weitgehend
allen Zeiten und ist es in der Gegenwart noch in viel dichterem Maße, Literatur
immer auch international wirksam (man Denke nur an Stefan Zweigs Hoffnung auf
"Völkerverständigung" und "europäischen Frieden" durch
die Kultur vor Beginn des ersten Weltkrieges im Rahmen des innereuropäischen
Austausches der Literaten und derer Werke).
So startet die Autorin ihren lebendigen, überaus informativen Blick auf die
deutsche "Welt-Literaturgeschichte" nicht ohne Hintergrund und
treffend mit Boris Karloff als "Frankenstein", der in einem
Lederkoffer den "Werther" entdeckt und einschneidend auf dieses Werk
reagiert. Darin liegt die Grundfrage der Autorin, der sie im Werk nachgeht:
"Warum ist sie (die deutschsprachige Literatur) außerhalb der
deutschsprachigen Provinzen überhaupt von Bedeutung" (und das zudem mit
fast kultartigem, langanhaltendem Charakter in der Welt)? Liegen in der
deutschen Literatur tatsächlich "allgemeine" ästhetische Werte oder
anthropologische Konstanten, die über den engeren Bereich des Zielpublikums
heraus Bestand haben?
Auf jeden Fall, und dafür liefert Richter vielfache Belege und Beispiele in
ihrer opulenten "Werkschau", "überwindet Literatur die Grenzen
ihrer Sprache und Kultur". Dieser geweiterte Blick aus nun anderer Richtung
als die bisherigen Darlegungen ausgehend von einer "nationalen
Angelegenheit" kommt also eher von außen und dringt in das Innere der
Wirkung deutschsprachiger Literatur vor, was im Buch als spannende, aber, dem
Anspruch nach auch verständlich, auch anstrengende Lektüre vorliegt.
Aber auch eine Weite des Blickes, denn neben den Werken und deren Autoren selbst
geht es ja vor allem auch um die Rezeption außerhalb des
"Kern-Sprachraumes". Um Übersetzer, Gönner, Freunde, Fans, Lektoren,
um Kritiker, dann auch, bei filmischen Adaptionen, um Regisseure und
Schauspieler (hier drängt sich nachgerade Marlene Dietrich in der Verfilmung
von Heinrich Manns Werk "Professor Unrat" unter dem Titel "Der
blaue Engel" als Beispiel eines Werkes auf, dass gerade wegen, vielleicht
sogar nur aufgrund der Verfilmung Weltruf erlangte. Von 1450 an bis in die
Gegenwart reich dabei der zeitliche Blick der Autorin, von Beginn der
"deutschen Kultursprache" bis zu deren erster internationaler
Beachtung als "heiße Ware", 1450 bis 1700.
Schelmenroman, Aufarbeitung von Zeitgeschehen (im "Simplicissimus),
Verkündigung des Glaubens in Hymnen, deutschsprachig bis ins ferne Amerika
hinein, in späteren Zeitabschnitten die entdecken der Innerlichkeit in
exemplarischer Äußerlichkeit der Rahmung (Nathan der Weise), gesteigert ins
tiefste Gefühl als "Weltgefühl" im "Werther", aber auch
der Idealismus in der Literatur als "Korpus einer Idee" (ja, auch
"Winnetou" wird hier mit aufgenommen), dann über die Literatur aus
Ausdruck und Begleiter einer "Welt des Umbruchs" um die
Jahrhundertwende zum 20 Jahrhundert hin, als "miefige Heimatliteratur"
im dritten Reich, da aber auch als "Kundschafter des Deutschen in der
Welt" durch die zahlreiche Literatur der Emigration, es ist ein breiter und
vielfältiger Blick, den Richter in diesem Werk dem Leser öffnet.
Und in dem klar wird: "dass deutschsprachige Literatur in ein mehr oder
minder globales Gespräch eingebunden ist, was uns alle angeht". Wobei
Richter eine gewisse Einengung nicht vernachlässigt, denn der
"Sprachraum" wird überwunden, aber nicht "weltweit"
unbedingt. Kulturelle gemeinsame Grundlagen bedarf es schon in nicht wenigen
Fällen, um literarische Werke nicht nur der Sprache, sondern auch dem
Sinngehalt nach erfolgreich "zu übersetzen". Aber dennoch, in
durchaus besonderer Form versteht es die deutsche Literatur seit Jahrhunderten
bereits, aktuelle, wichtige, zeitgeschichtliche Themen ebenso wie
"Archetypen" menschlichen Seins mit internationaler Wirkung in sich
einzubinden.
Fazit
Auch wenn ebenso für den eher größten Teil dieser Literatur gilt:
"Jenseits der eigenen Sprache ist Nichtwahrnehmung der Regelfall".
Richter weist genügend, eigentlich eine Fülle von "Ausnahmen" vor,
die den Blick auf die deutschsprachige Literatur stark erweitern und dem Leser
einen "weltweiten Blick" ermöglichen. Eine anregende, nicht einfache,
aber lohnenswerte Lektüre.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 13. November 2017 2017-11-13 12:20:50