Die Söhne der Familie Hasse aus Solsbüll hießen Gustav. Großvater Gustav,
ein Tischlergeselle, fällt im Ersten Weltkrieg im Geburtsjahr des zweiten
Gustav Hasse, der wiederum einem Regiment aus Solsbüll angehört und im
Kriegsjahr 1941 in Russland fällt, in dem sein Sohn Gustav geboren wird. Das
Schicksal, dass in zwei Weltkriegen Vater und Sohn fallen, teilen die Hasses mit
vielen deutschen Familien. Gret Hasse, die ältere Schwester des mittleren
Gustav, gründet einen Haushalt von Hebammen im Kreis Solsbüll-Land und zieht
den Enkel Gustav auf. Auch sie steht für eine ganze Generation von Frauen, die
nach dem Ende des zweiten Weltkriegs die Trümmer beseitigten und elternlose
Kinder versorgten. Die Schwestern des mittleren Gustav bilden ein
charakteristisches Gegengewicht zur männlichen Linie. Rosa und ihr Mann
emigrieren bereits 1933, Gret hält die Stellung in der Hebammenpraxis und wird
zur Zeitzeugin von Kriegsende und Nachkriegszeit. Starke Nebenfiguren wie Doktor
Otto von Meggersee tragen zum authentischen Bild jener Zeit bei. Von Meggersee
senior dient im gleichen Regiment wie Gustav Hasse und überlebt den Krieg in
Frankreich, weil er wegen einer "Nervensache" nachhause geschickt
wird. Meggersee junior tritt in die Fußstapfen seines Vaters als Arzt.
Der Ort Solsbüll verbindet Missfeldts Romane Gespiegelter Himmel, Steilküste
und
Sturm und Stille. In
Sturm und Stille tritt Gustav senior als fiktiver Storm-Biograf auf. Missfeldts
Solsbüll liegt in jener interessanten Region, in der nach dem Ersten Weltkrieg
über die Zugehörigkeit zu Dänemark oder Deutschland abgestimmt wurde.
Was nach einer klassischen Familien-Saga klingt, entpuppt sich als sorgfältig
geknüpftes, sehr feines Netz aus Beziehungen, in dem sich Nationalsozialismus
und Nachkriegszeit in der tiefsten Provinz wie unter einem Vergrößerungsglas
betrachten lassen. Vom Denunzieren missliebiger Nachbarn in der NS-Zeit bis zum
Zusammenraufen von Einheimischen und Flüchtlingen nach 1945 wird hier alles
geboten. Herausragend trifft Missfeldt die Atmosphäre der 50er und 60er, wenn
er Enkel Gustav seine Umwelt mit der Nase erkunden und beschreiben lässt.
Missfeldts Alter Ego Gustav, einziger Mann unter Frauen, orientiert sich an
Brikettfeuern und Petroleumdünsten, an den Gerüchen der verschiedenen
Haushalte und der Plumpsklos. Das Feuermachen in der Küche, bevor man
Kaffeetrinken konnte, oder das Treffen Jugendlicher an der Teppichstange muss
man vermutlich erlebt haben, um es wie Missfeldt erzählen zu können. Ebenfalls
herausragend finde ich die für die Zeit und die Region treffende Sprache, die
Missfeldt seinen Figuren auf den Leib schreibt – nüchtern, auf den Punkt
gebracht und nicht lange gefackelt.
Sollsbüll ist die überarbeitete Neuausgabe des 1989 bei Langewiesche-Brandt
und später als Rowohlt-Taschenbuch erschienenen Romans, die durch ein
umfangreiches Personen- und Begriffsverzeichnis und Kristof Wachingers
Nachwort zur Entstehungsgeschichte im neuen Kontext erscheint. So sollten
umfangreiche Familienromane ausgestattet sein.
Fazit
Eine herausragende Verbindung von Familienroman und Lokalgeschichte, die zu
guter Letzt auch meisterhaft davon erzählt, wie es sich in den wilden 50ern
anfühlte 16 Jahre alt zu sein.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 20. August 2017 2017-08-20 08:44:03