Henry Tureman Allen (1859-1930) war Offizier der US-Army und leitete 1885-1886
eine Expedition nach Alaska. In Eowyn Iveys Alaska-Roman wird aus ihm Colonel
Allen Forrester, der mit einem kleinen Team in militärischem Auftrag den Fluss
Wolverine erforschen soll. Die Expedition soll ausgehend von der
Prinz-William-Bucht dem gefrorenen Flusslauf folgen, die Berge überqueren und
vor dem nächsten Winter den Yukon erreichen. Offiziell dient die Tour der
Kartierung und dem Studium der Ureinwohner. Eine russische Forschergruppe ist
kurz zuvor am Wolverine River gescheitert und wurde von den Einwohnern getötet.
Dass die Suche nach Bodenschätzen und militärische Motive Forrester und
seine beiden Gefährten ins Eis führen, ist offensichtlich. Begleitet werden
die Amerikaner vom Trapper und Dolmetscher Samuelsen und einer einheimischen
Frau, die von ihrem Ehemann erzählt, er hätte in die Gestalt eines Otters
wechseln können und sie hätte ihn getötet.
Mit Allen Forrester, seiner Frau Sophie und dem Expeditionsteilnehmer Pruitt
kommen mehrere Icherzähler in Briefen und Tagebuchaufzeichnungen zu Wort.
Forresters Ehefrau hätte die Expedition gern begleitet, wäre sie nicht kurz
vor dem Start schwanger geworden. Die junge Ehefrau bleibt zurück in der
amerikanischen Garnison Vancouver am Columbia River. Sophie hat eine Ausbildung
als Lehrerin und war bereits vor ihrer Ehe sehr naturinteressiert. In der
Abwesenheit ihres Mannes bringt sie sich mit Unterstützung des Apothekers
selbst das Fotografieren mit einer Plattenkamera bei.
Den Nachlass des fiktiven Allen Forrester will in der Gegenwart dessen
Großneffe Walter in Briefen einem kleinen Heimatmuseum in Alska anbieten. Als
Kind hatte Walter in seinem Zimmer eine Landkarte Alaskas an der Wand und
beschäftigte sich intensiv mit dem Schicksal seines Großonkels Allen. Er will
auf seine alten Tage den Widerspruch zwischen den offiziellen Berichten über
die Expedition und Allens persönlichen Tagebüchern klären. Außer den Briefen
sind auch einige Artefakte erhalten. Die Erinnerungsstücke müssten jedem
Museumskurator begehrliche Blicke entlocken, da es zur jungen Geschichte Alaskas
nur wenig Quellen gibt. Allens junger Briefpartner Josh Sloan wiegelt zunächst
mit Hinweis auf seinen begrenzten Etat ab. Joshs Herkunft mütterlicherseits aus
dem Wolverine-Clan macht ihn für Walter Forrester zum begehrten Experten, um
die Aufzeichnungen überhaupt richtig zu verstehen.
Forrester und seine Gefährten Pruitt und Tillman unterschieden sich von
Männern wie Shakleton, weil Ivey ihnen ihr Unwissen über die Region und ihre
Planungsmängel früh bewusst werden lässt. Als ihre einheimischen
Gesprächspartner deutlich machen, dass der Fluss nicht schiffbar ist und
unterwegs kein Nachschub zu erhalten ist, verblüfft das die kleine Truppe
ebenso wie das Tabu, die Berge nicht zu betreten, weil sie als Reich der Toten
gelten. Iveys Figuren wirken für ihre Zeit angenehm offen für die Traditionen
der Wolverine-Menschen. Sie können erkennen, dass die Welt, die sie gerade
entdecken, ohne sie existieren kann, sie aber nicht ohne die Hilfe der
Ureinwohner überleben werden.
Wer
Das Schneemädchen kennt, wird sich nicht wundern, dass
Eowyn Ivey eine gehörige Portion Magie und Aberglauben in ihre Handlung
verwebt. Angefangen mit den Otterwesen, über Frauen, die abwechselnd als
Graugänse erscheinen, über einen rabenhaften Schamanen, der in einem Baum zu
leben scheint, bis zur unheimlichen Verbindung zwischen Sophie Forresters
Totgeburt und einem Baby, dass Forrester als Geburtshelfer aus einer Baumwurzel
entbindet.
Die unterschiedlichen Perspektiven der Figuren des 19. und 20. Jahrhunderts (im
Layout sehr übersichtlich gegliedert) machen Iveys umfangreichen Roman zu einem
Fundus zur Entdeckung Alaskas. Gerade die begrenzte Zahl der Artefakte
konzentriert den Blick auf das Überleben unter unwirtlichen Bedingungen.
Sophies frühe Rebellion gegen die ihr zugewiesene Frauenrolle sollten Leser
augenzwinkernd zur Kenntnis nehmen. Neben der spannenden Frage, welche Fakten
Iveys Fiktion verbirgt, fand ich das Wachsen der Beziehung zwischen Josh und
Allen fesselnd, während der junge Mann in alten Dokumenten die Geschichte
seiner unmittelbaren Heimat erkennt.