Eine "Grund-Reibung" des Lebens und die mögliche praktische
Lösung
Dass man selbst "Herr über sein Leben" ist, davon geht man, zumindest
in den westlichen Zivilisationen fast selbstverständlich aus. "Seines
Glückes Schmied" ist dabei nur eine der Volksweisheiten und Sentenzen, in
denen diese Überzeugung zum Ausdruck kommt. Und allein schon die Aufforderung
"Mach mal", tausendfach gehört im Leben, impliziert ja die
"Selbststeuermöglichkeiten" des Menschen. Das einer gar nicht
könnte, das mag man bei sportlichen Höchstleistungen oder anderen
Unmöglichkeiten für den "normalen Menschen" zugestehen, aber die
alltäglichen Dinge, das sind doch nur Fragend er autonomen Entscheidungen,
oder?
Wobei, auf der anderen Seite, sofort schon klar sein muss, dass alleine der
Geburtsort vielfaches am Leben mitentscheidet, ebenso, wie die soziale Gruppe,
in die man "hineingeboren" wird und aufwächst. Wie die Wissenschaft
von der Psychologie mit der Bindungstheorie bis hin zu den Neurowissenschaften
mit ihrem Wissen um "Verdrahtungen im Gehirn" durch soziale Einflüsse
darlegen, ist es mit der Autonomie "einfach so" nicht weit her. Schon
daher passt die philosophische Herangehensweise von Beate Rössler ausnehmend
gut, auch wenn das Werk beim Leser ein nicht geringes Abstraktionsvermögen
voraussetzt. Obwohl die Autorin über weite Strecken hinweg in bester Weise sehr
verständlich schreibt.
Die Reibung zwischen dem "Selbstbild" als autonome Person und den
alltäglichen Erfahrungen, wie vieles eben nicht sonderlich selbstbestimmt
abläuft und vonstattengeht, beleuchtet das Thema der Autonomie sehr
differenziert aus der alten und grundsätzlichen philosophischen Fragestellung
des "Seins" des Menschen her. Wobei auf der einen Seite die
Möglichkeiten zu einem und der Wert des selbstbestimmten Lebens klar aufgezeigt
werden, ebenso aber auch, dass der Weg dorthin nicht einfach ist, sondern mit
Abwehrreaktionen aus dem eigenen Inneren und, natürlich, von außen, gesäumt
sein wird. Dass es manchmal unter Umständen gar nicht sinnvoll sein mag, auf
Autonomie um jeden Preis zu drängen, denn auch "Automatismen", sozial
geprägt, bilden nicht selten eine wichtige Grundlage für den eigenen Weg zur
Autonomie, eben nicht alles neu erfinden zu müssen.
So arbeitet Rössler sehr sorgfältig und erhellend jene "Grundspannung des
Lebens" zunächst heraus zwischen der "Möglichkeit und der
Unmöglichkeit von Selbstbestimmung", zwischen der "Idee und dem
täglichen Leben", die in dialektischer Reibung jedem Leben begegnen. Mit
vielfachen Beispielen aus der Literatur als "Instrument" geht Rössler
Schritt für Schritt der Entwicklung der Idee der Autonomie (Kant) über das
Selbstverständnis des modernen Menschen in liberalen Demokratien bis hin zur
sozialen Verankerung und Verhaftung in festgefügten sozialen Regeln nach.
Mit dem Ergebnis, da das "Ideal", die "reine Idee" nicht
wirklich gelebt werden kann, eine "nicht ideale Theorie" zur Autonomie
zu entwickeln. Eine Betrachtungsweise, in der nicht alle Widersprüche
aufgelöst werden, aber eine "Befriedung" zwischen dem Drang (und der
Wichtigkeit für ein "gutes Leben") nach "Selbstbestimmung"
und der Unentrinnbarkeit aus gesetzten Regeln und sozialen (gerne und freiwillig
ja oft gelebten) sozialen Verankerungen entsteht. Solange gegeben ist, klar
bleibt und, natürlich, auch dafür gekämpft wird, die eigenen Werte des Lebens
zu entdecken und zu verfolgen (teils unter mißlichen und erschwerenden
Bedingungen wie für Frauen in traditionell islamischen Gesellschaften).
Selbstgewählte Wege gehen zu können, wenn auch nicht allein und einsam,
sondern unter Kompromissen für das eigene, soziale Leben, das wirkt am Ende der
Lektüre als zumindest gangbarer, wenn auch eben nicht "idealer" Weg
zu einem möglichst und weitgehend selbstbestimmen Leben "in (auch)
sozialer Abhängigkeit). Und für diesen Ansatz passt es im Übrigen ausnehmend
gut, dass Rössler vielfache literarische Bezüge herstellt, denn die Spannung
zwischen "Soll und Ist" als "Solist" und den tiefen
Versuchen, innerhalb der sozialen Gruppe Anerkennung zu erlangen, eben nicht
ganz herauszufallen, ist eines der Kernthemen von Literatur überhaupt.
Fazit
Eine sehr anregende, kluge und zugleich praxisnahe Lektüre, die am Ende zum
Handeln auffordert.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 26. Juni 2017 2017-06-26 17:01:44