Anregende Betrachtungen des modernen (Ehe-) Lebens
Auch wenn Eva Sicherlschmidt das Personal ihres neuen Romans je bestimmten
"Lebenshaltungen" und "Persönlichkeitstypen" zuordnet, vom
Luftikus zum leichT Depressiven, von der Power-Frau zum "Latin-Lover",
vom sensiblen "Streber" zur leicht schon aus der "Fassung"
geratenen Heranwachsenden, das Gemisch, dass sie damit herstellt, ist durchaus
ein repräsentativer Blick auf die3 moderne Zeit. Mit ihrer Szene im "Szene
Viertel" in Berlin, mit der Hektik, dem Druck und dem "viel mehr
Schein als Sein2 aktueller Start-Up Hysterien, mit sich auseinander lebenden
uralten Freundschaften, weil in dieser Welt eben jeder seinen Weg geht, wie
illusorisch der auch sein mag. Und ebenso tauchen, wohltuend eher am Rande, auch
die Umstände von Flüchtlingen mit auf und Männer, die in Parks herumlungern.
Bis hin zu den karikierten und doch so treffenden Momenten mit der
"Vorgängergeneration", wenn die Eltern zum unpassendsten Zeitpunkt zu
Besuch erscheinen.
Wobei das alles eher langsam beginnt. Und dennoch umgehend klar wird, dass der
Titel des Buches im wörtlichen, nicht übertragenen Sinne zu verstehen ist. Die
(teils auch lethargische) Ruhe ist weg. Bei Till, dem träumerischen, sanften,
therapiebedürftigen Mann und Vater, der tagelang im Dämmerschlaf auf der Couch
zubringen kann, wenn er nicht die Gitarre zu schwingen hat in einem
Lindenberg-Musical in Berlin. Das alles natürlich mit dem Fahhrad, wir befinden
uns ja in einem "bewussten" Haushalt.
Die Ruhe ist auch weg bei Marlies. Im Blick auf Till, dessen ständig
melancholischen, waidwunden Blick sie kaum mehr erträgt. Vor allem, seitdem
Ralf in ihrem Leben eine Rolle spielt. Yoga Lehrer und nicht nur auf der Yoga
Matte eine Wucht. Doch menschlich… das passt sich ein in diese Horde
egozentrischer Gestalten, die ständig mit sich beschäftige sind. Die erst
einmal immer tief nach innen atmen müssen, um zu entscheiden, was genau sie
gerade wollen. Oder auch nicht. Hauptsache es kommt keine Langeweile auf und man
kann seinem "Veggie-Leben" frönen.
"Es war einer dieser teuren Geschwisterbuggys, die aussahen wie ein
aufgebockter Bürostuhl mit integriertem Wäschekorb".
Eine Welt, an der Marlies fast durchdreht. So gezielt unordentlich geordnet, so
konsequent auf Image gebürstet, wie später der Ganzkörpertätowierte
Bademeister in Ostia und der italienische Jugendfreund, der ganz auf sensiblen
Hengst macht. Im Gegensatz zum "Prenzlauerberg-unisex-look", den auch
Marlies angenommen hat und nun, mit 40, feststellt, dass Kleid und hohe Schuhe
einen doch eine ganz andere Frau sein lassen.
Während Till den Leser über lange Zeit hinweg bald nur noch nervt mit seinen
oft feuchten Augen und seiner endlosen Suche nach sich selbst, den er auch in
den Therapiestunden nicht wirklich findet. Wie Lindenberg in einem Song singt
"Was hat die Zeit aus uns gemacht", so dekliniert Sichelschmidt diese
Frage an ihren Protagonisten durch und stellt in ihrem, auch sprachlich, gut zu
lesenden Roman das alte Thema des "Kann es das gewesen sein?" im
modernen gewandt der "Hipster" und "Bewegten" bestens
dar.
Mit dem "großen Ausbruch" nach Italien, Rom, Land und Stadt der
Sehnsucht, mit der ernüchternden Realität dort, mit dem, was verbindet, was
trennt und was bleiben könnte. Wobei, da sei der Leser gewarnt, ein echtes
Happy-End, eine "Neu-Werdung" wird so nicht im Raum stehen am Ende der
Geschichte. Betrüblicherweise scheint dies die Welt einfach nicht mehr
herzugeben in diesem sich "ruhig einrichten, irgendwie" oder eben
"keine Ruhe geben können auf dem Weg nach oben", wo immer Einzelne im
Roman dieses Oben auch verorten würden.
Fazit
Eine im Stil vergnügliche, in den den Personen und "Lebensräumen"
karikiert erkennbar getroffene und im Inhalt durchaus nachdenklich
zurücklassende Lektüre.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 20. Juni 2017 2017-06-20 10:26:32