In den sechs Königreichen Calaspias legte bisher niemand Wert auf Schulbildung.
Allein mit dem 16-jährigen Brauerssohn Bryn Bellyset und mit dem gleichaltrigen
Mittni Bartholdi machte die Gemeinschaft eine Ausnahme: Mittni bekam Unterricht
von seinem Großonkel, Bryn wurde als 8-Jähriger aus seinem Heimatdorf Wenfeld
zunächst vier Jahre lang zur Erziehung nach Quivelda geschickt. Nachdem er
weitere vier Jahre von den "Aposteln des Verstehens" ausgebildet
worden war, ist Bryn gerade nach Quivelda zurückgekehrt. Doch bevor das
vergnügte, trinkfeste Völkchen Quiveldas eine Wiedersehensfeier für Bryn
ausrichten kann, wird das Dorf von einer gemischten Monsterbande überfallen,
die Einwohner entweder getötet oder verschleppt. Nur Bryn, Mittnis Schwester
Telseara und sein kleiner Bruder Dordios entgehen der Verschleppung durch einen
Zufall.
Bryn und die Geschwister machen sich gemeinsam auf den Weg, um die Verschleppten
zu befreien und dem Imperium zu melden, dass die Monster, die Ostentum, doch
nicht - wie bisher angenommen - ausgerottet sind und wieder in den Königreichen
herum marodieren. Den Jugendlichen schließt sich der Zwerg Galar Stureison an.
Galar ist ein muskulöser, gut trainierter Einzelkämpfer, der dummerweise
vergisst, seine Brille zu dieser Unternehmung mitzunehmen. Gemeinsam gelingt es
den Gefährten, Mittni und Thybil, den Großonkel der Geschwister, zu befreien.
Bryn, Galar, Mittni, Thybil und Wafrudnir vom Stamm der Nephelim brechen nach
Armaah auf, der schwimmenden Hauptstadt des Imperiums. Die erweiterte Gruppe
will als Verhandlungs-Delegation in Calaspia um militärische und
wirtschaftliche Unterstützung für ihre Heimat bitten. Unterwegs schließt sich
ihnen Johan, ein Mensch an. In Armaah wird das Treffen des "Hohen Rats der
Offiziellen und Landesältesten" in nie gesehenen Prunk zelebriert.
Ahnungslos geraten die Gefährten zwischen die Fronten eines erbitterten Kampfs
um Macht und Amt des Imperators. Bryn ist der Leidtragende dieser Intrige auf
höchster Ebene und muss erkennen, dass eine Gruppe einflussreicher Bürger ihn
und seine Kameraden für ihre Zwecke ausnutzt.
Die sechs Königreiche Calaspias sind auf einer Landzunge südlich der
Säbelzahnberge gelegen und werden vom tyrannischen Imperator Opeion regiert.
Die vereinten Königreiche sind moderne Gesellschaften; ihre Bewohner bauen
Häuser, nutzen Bodenschätze und tüfteln an technischen Verbesserungen. Im
kapitalistischen Wirtschaftssystem Calaspias gibt es Handel, Steuern werden
erhoben, Waren mit Gold- und Silbermünzen bezahlt. Eine wohlhabende
Oberschicht und eine Gruppe von Klerikern üben ihren Einfluss auf die
Gesellschaft Calaspias aus. Jede Woche können die Leute von Calaspia eine
Zeitung kaufen.
Der Brauer Bryn gehört zum Volk der Barue, die sich selbst als den Menschen
ähnlich empfinden und sich anderen Völkern gegenüber als die Guten, die
Bescheideneren sehen. Urteile der unterschiedlichen Rassen übereinander,
Diskussionen welche Rassen menschlich oder menschenähnlich sind, sowie die
Abgrenzung zwischen Menschen und anderen Lebewesen sind für die Bewohner
Calaspias immer wiederkehrende Gesprächsthemen. Barue können sich gut in
andere Wesen einfühlen und empfinden Mitleid, Furcht, Schmerz oder Schreck
völlig fremder Personen. Bryn, der früher mit seinen Freunden gern Questus,
ein P&P-Rollenspiel gespielt hat, muss sich auf dem Weg in die Hauptstadt
erstmals außerhalb seiner Heimat bewähren.
Der Zwerg Galar ist ein alter Kämpfer, der sich im 40 Jahre zurückliegenden
legendären "Krieg um das Tor" Verdienste erworben hat. Über
Ged-Ruak, die große Bergfestung und Hauptstadt der Zwerge und die Abenteuer
ihrer Bewohner erzählt man sich zahlreiche Anekdoten.
Suresh und Jyoti Guptara entwickeln im ersten Band der Calaspia-Serie eine
phantastische Welt, die stark an die uns bekannte Gesellschaft angelehnt ist.
Das modernste Elemente ist ein Überwachungssytem, das nicht nur
Fingerabdrücke und Körpergewicht, sondern auch die magischen Fähigkeiten
aller Bürger und Besucher penibel verzeichnet. Aufkeimende Kritik an den
Herrschenden Calaspias und an den Folgen des kapitalistischen Systems erscheint
im ersten Band noch stärker durch die Sichtweise unseres Jahrtausends geprägt
als durch die Einsichten der Hauptfiguren. Ob die Gesellschaft Calaspias unserer
modernen Welt tatsächlich ähnelt, werden die Folgebände zeigen.
Ihre ausführliche, plausible Darstellung von Staat und Gesellschaft in
Calaspia ergänzen die Autoren mit zusätzlichen Anmerkungen im Anhang des
Buches. Wenig fesselnd finde ich, dass die Zusammenhänge oft rein verbal
erklärt werden, anstatt sie aus der Sicht der handelnden Figuren allmählich zu
entwickeln. Es wird zwar berichtet, dass formale Gleichberechtigung in den
Königreichen herrsche und Bel-Tued sogar von einer Frau regiert würde - aber
es wird eben nur davon berichtet. Frauenrollen außer denen der jüngeren
Schwester, der Großmutter und der Köchin sind im ersten Band der Serie knapp
vertreten. Die freche Telseara und die Kundschafterin Aesir treten leider erst
zum Ende des Buches auf. Weitere Zusammenhänge, die die Autoren eher berichten
als sie lebendig werden zu lassen, sind die gesamte Logistik (wie kommt die
Milch in die Flasche, wie das Wams an den Gefährten und woher stammt das Geld
in den Taschen?), einige Kampfszenen (wie kämpfen zwei Personen vom
Pferderücken aus gegeneinander, was passiert dabei konkret?) und die
Vorausssetzungen, unter denen eine Gruppe längere Zeit in verschneiter
Landschaft zu Pferd unterwegs sein kann. Auch die besondere
Einfühlungsfähigkeit der Barue, die Emotionen genau spüren können, hätte
ich mir lebendiger beschrieben gewünscht. Die Handlung hat im Mittelteil einige
Längen, legt zum Ende wieder an Tempo zu und hält damit die Neugier auf die
Fortsetzung wach.
Band 2:
Calaspia. Der
Schwertkodex