Anregende Essays
Da sitzt dieser Nachtfalter auf dem Rücken des schlafenden Vogels. Und schiebt
sachte mit seinem Rüssel unter das Augenlid des Vogels. Verharrt. Und trinkt
Tränen. Was nicht nur biologisch und zoologisch interessant ist, sondern wohl
auch das 20. Jahrhundert im Gesamten gut hätte gebrauchen können. In dem die
Zeitgeschichte, aber auch die Literatur zu und über dieser Zeitgeschichte
bittere Tränen en Masse vergossen hat. Soweit, dass es "blindgeweint"
ist?
Das nicht, denn Marcel Beyer zeigt in den 10 im Buch versammelten Essays (wobei
das letzte der Kapitel eher ein Nachwort und Dank darstellt), dass man sich dem
Thema "Tränen" vielfältig, aber immer in Bezug auf die reale Welt
und das Geschehen der jeweiligen Zeit nähern kann. Und dabei das geschriebene
Wort durch nichts zu ersetzten ist.
Denn wenn ein Biologe eine neue Art beschreibt, dann absolut ausführlich,
differenzierend, auf kleinste Details auch sprachlich achtend. Eine Methode, die
immer noch gilt, die nur so angewandt ist. Auch wenn der Leser durch diese
übergenaue Beschreibung eher noch daran gehindert wird, ein klares Bild im Kopf
zu entwerfen (was ein Foto ja leisten könnte), würde eine fotografische
Abbildung eben nicht die dutzenden Begriffe für Grautöne, für kleinste
Merkmale treffen. Die aber entscheidend ist in der Frage, diese von anderen
Arten zu unterscheiden. Wobei diese "Nachbesinnung" intensiv mit dem
ersten Essay korrespondiert, was von der kompositorischen Kraft Beyers auch
zeugt.
Wo ein Affe 1938 im Berliner Zoo anscheinend zufällig eine Leica umhängen hat
und ein Foto von den Besuchern "schießt". Und doch bei genauer
Betrachtung (und sprachlich von Beyer wunderbar dargestellt) die gesamte Szene
gestellt ist. Inszeniert von einem Fotografen, der einige Jahre später, 1940,
eine Verhaftungsszene ebenfalls wohl "nachstellt", wie Beyer sorgsam
sprachlich nachzeichnend auf einem anderen Foto desgleichen Fotografen
entdeckt.
"Sich von Hilmar Pabel photographieren zu lassen" heißt somit
"sterben lernen", heißt "töten helfen" und damit sind die
ersten Tränen schon in Reichweite, das muss Beyer gar nicht mehr explizit
ausführen. Wobei es, neben den "harten Tränen" auch
"weichgespülte" Tränen durchaus sind, die Beyer nonchalant
mitverarbeitet, wenn er Helmut Kohl an Rilkes Grab, Helmut Kohl Rilke zitierend
und die gesamte Situation der Ereignisse von 1989 mit so manchen
"Abschiedstränen" mit hineinnimmt.
Fazit
Eher assoziativ und spielerisch greift Beyer Themen, die er mit klarer,
anregender Sprache und im besten, unterhaltsamen Stil vorführt, dem Leser
nahebringt und, nicht selten, eher im Hintergrund die "Tränen" ein
gewichtiges Wort mitsprechen lässt. Und sich dabei nicht scheut, selbst den
Kitsch in Person von "Heintje" "tränenreich" zu erinnern.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 09. Mai 2017 2017-05-09 12:22:36