In schwarzen Klamotten kann man sich und seine Probleme verstecken. Die
17-jährige Alex liebt Schwarz. Sie hat es nicht leicht ohne Mutter und mit
einem alleinerziehenden, meist schweigsamen Vater. Als der charismatische
Referendar Daniel Spitzing in die Klasse kommt, verliebt Alex sich hemmungslos
in ihn. Im ersten Überschwang verliert sie die Gefühle anderer aus dem Blick,
Daniel Spitzings Empfindungen und die ihres besten Freundes Paul. Spitzing tritt
schwarz gekleidet und lässig auf wie ein älterer Schüler. Ob gerade Deutsch
oder Geschichte auf dem Stundenplan steht, nimmt er nicht so genau. Der
Referendar will einiges anders machen als der erkrankte Fachlehrer. Die Schüler
sollen zu Beginn seiner Stunden 5 Minuten lang schreiben ohne den Stift
abzusetzen. Der frische, unverstellte Blick auf Sprache und Literatur fesselt
auch die schlechteren Schüler. Doch als Alex, Paul und Ratte sich ungefragt in
Daniels Leben einnisten, muss der umschwärmte Referendar Alex
unmissverständlich klarmachen, dass er keine Beziehung zu einer Schülerin
haben will.
Als Dreierbande bilden Alex, Paul und Ratte eine Notgemeinschaft von
Außenseitern, die besonders Paul eine Ersatzfamilie bietet. Paul fühlt sich
zuhause gegenüber seinem behinderten Bruder oft zurückgesetzt. Mit Pauls
Geschichte faltet Lena Gorelik einen eigenen Roman im Roman auf. Die Clique
spielt beinahe suchtartig miteinander das Was-wäre-wenn-Spiel. Mit zunehmend
erotischem Unterton testen sie Grenzen aus, wer was von sich preiszugeben bereit
ist. Bisher haben die Drei sich gegenseitig nur spielerisch verbal provoziert
und zu peinlichen Geständnissen getrieben. Doch neuerdings kommen die
Behinderung von Pauls Bruder, Rattes gewalttätiger Vater und Alex mutterloses
Dasein auf den Tisch. Dass die Drei stets gemeinsam auftreten, hätte Spitzing
zu denken geben sollen, als er in Paul einen Seelengefährten und
Lieblingsschüler zu sehen beginnt. Das Verhältnis zwischen der Dreierbande
und ihrem Lehrer eskaliert ausgerechnet während der Klassenfahrt nach Polen.
Alex küsst in Auschwitz Paul; das Bild macht sofort die Runde in den sozialen
Netzwerken. Ausgerechnet die eloquentesten Schüler der Klasse haben vergessen,
wo sie sich befinden und ihre Schule und ihre Lehrer damit blamiert.
Alex kurze Sätze wirken so kindlich, dass ich Zweifel daran hatte, ob sie vom
Erwachsenwerden nicht heillos überfordert sein würde. Als reichlich planlose
Hauptfigur sucht sie während des Erzählens, in der Du-Form direkt an Daniel
gerichtet, den Anfang der Geschichte. Dabei wickelt sie Lebensläufe voller
Sehnsucht nach abwesenden Eltern auf, das Suchen Jugendlicher nach sexueller
Identität und nach der eigenen schwarzen Seite.
Fazit
Knutschen in Auschwitz als Thema eines All-Age-Romans wirkt als starker Tobak,
aber auch als Suche danach wie Geschichte unterrichtet wird und wie Erinnerungen
funktionieren. Goreliks Helden sehen zwar so aus wie Helden einer
Coming-of-Age-Geschichte, sie sind es jedoch nicht. Es geht in "Mehr
Schwarz als Lila" um das Erwachsenwerden, um Respekt, Grenzübertretungen
und um persönliches und historisches Erinnern. Weil das Thema auch Grenzen
zwischen Generationen überschreitet, Jugendlichen ab 12 Jahren wie Erwachsenen
unbedingt empfohlen.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 16. Februar 2017 2017-02-16 12:57:56