Big Brother trifft auf das in Südengland beheimatete Eden Project gemischt mit
Desparate Housewifes, so könnte man das Thema des Buches kurz zusammenfassen.
Vier Frauen und vier Männer werden für zwei Jahre in ein geschlossenes
Ökosystem unter einer riesigen Glaskuppel eingesperrt. Sie leben experimentell
in einem Terrarium. Die Abgeschlossenheit und das Gefängnishafte gleicht einer
Raumstation. So bauen sich Beziehungen auf, aber auch Konflikte.
Boyle hat einen passenden Erzählstil für diese Geschichte, die Anfang der
neunziger Jahre handelt, gefunden. Er lässt verschiedene drei Protagonisten in
verschiedenen Phasen des Projektes erzählen: vor dem Einschluss in das
Terrarium genannt E2 (Ecosphere 2), im ersten Jahr drinnen, im zweiten Jahr
drinnen und nachdem sie das E2 verlassen haben. Wie in einem Tagebuch berichten
diese Protagonisten, es sind Dawn und Ramsay von innerhalb und Linda,
Crewmitglied außerhalb E2, die sich in ihren Erzählungen direkt dem Leser
zuwenden und ihn ansprechen mit Sätzen wie: "Glauben Sie nur nicht, dass
wir darüber nicht auch nachgedacht haben." Das schafft eine Nähe zu
diesen Erzählern und lässt das Projekt wie eine Dokumentation wirken.
Außerdem lernt man auf diese Weise nicht nur die Erzähler kennen, wie sie
ticken, warum sie an dem Experiment teilnehmen, was ihre Motive sind. Der Leser
lernt auch die übrigen Teilnehmern der Crew aus den Berichten der Drei kennen.
Sowohl denen, die drinnen sind als auch denen, die von draußen das Projekt
betreuen. So zeichnet Boyle einen Extrakt der menschlichen Gesellschaft mit
allen Schattierungen. Die Leser können sich also auf ausgefeilte
Charakterstudien unterschiedlichster Figuren freuen, wie der Boyle-Kenner von
diesem Autor gewohnt sein dürfte.
Doch es gibt eine Nachlässigkeit, die mir in diesem Roman nicht ganz so
zugesagt hat. Hauptsächlich in der ersten Hälfte gibt es lange, ermüdende
Strecken, in denen der Autor bemüht ist, sein bei den Recherchen erworbenes
Wissen weiterzugeben. Das ist zwar verständlich, aber hätte nicht sein
müssen. Eingebunden in den Kontext zur Erklärung des Lebens in einer
abgeschlossenen Ökosphäre, ist dies meines Erachtens etwas zu viel des Guten.
So erfährt der Leser zum Beispiel was eine hypothalamische Amenorrhoer ist oder
was es mit dem Chadwick-Indikator auf sich hat. In seiner Fülle ausgebreitetes
Wissen, was nicht zum Fortgang der Geschichte beiträgt.
Ich kann aber beruhigen, denn in der zweiten Hälfte des Buches wendet sich das
Blatt. Denn T. C. Boyle ist bekanntermaßen ein Meister des Showdowns, ein
Meister der Zuspitzung. So verwundert es nicht, dass das Buch ab da so richtig
Fahrt aufnimmt. Die Konflikte spitzen sich zu und scheinen auf eine Katastrophe
zuzulaufen. Ausreichend Fäden und Konflikte wurden zuvor gelegt, die den Roman
nun zu einem Pagerturner werden lassen.
Besonders hervorzuheben ist die Übersetzung durch Dirk van Gunsteren, der nach
einer adäquaten Sprache im Deutschen gesucht und für mich auch gefunden hat.
So fließt an passenden Stellen typisch deutsche Umgangssprache ein, wo im
amerikanischen Original amerikanische Umgangssprache vorgelegt wird. Dadurch
macht das Buch besonderen Spaß.
Fazit
Wer die langen, belehrenden Phasen in der ersten Hälfte des Romans übersteht
bzw. überspringt, der wird am Ende einen höchst spannenden Roman mit sehr viel
Konfliktpotenzial genießen können. Das Thema gibt es allemale er und wurde
offenbar noch nicht abschließend behandelt.
Vorgeschlagen von Detlef Knut
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veröffentlicht am 31. Januar 2017 2017-01-31 21:12:35