Blick ins zerrissene Selbst
"Dann, wenn ich mich recht entsinne, setzte ich 2000 Florine, schon wieder
auf die 12 mittleren Zahlen – und verliere. Ich setzte mein Gold…- und
verliere. Jetzt werde ich wütend: Ich packe die letzten mir gebliebenen 2000
Florine und setze sie auf die 12 ersten – einfach so – blind – auf gut
Glück – ohne nachzudenken…!"
Und der Leser darf gespannt sein, was nun passiert. Ist Aleksej, der junge Mann
in den schwierigen, familiären Umständen gleich vollends pleite? Oder gelingt
noch ein kleiner Coup. Und was dann? In "Roulettenburg" sind sie
versammelt. Spieler. Spieler mit Schulden. Vor allem einer, der mit aller Gewalt
auf ein Erbe wartet, denn nur mit frischem Geld kann er seine Schulden
begleichen und dem nachgehen, was er am liebsten tut, weiterspielen.
Menschen, die in einer eigenen Welt leben, deren Impulskontrolle völlig
versagt, zumindest im Lauf der Zeit völlig versagen wird. Die sich, ihre
Beziehungen, ihre Lieben zugrunde gehen lassen für dieses Spiel. Das
Dostojewski im Übrigen ausführlich und Schritt für Schritt erläutert. Und
durch die Erläuterung des "Außen", diese akribische Beobachtungsgabe
des menschlichen Verhaltens, dem Leser einen Zutritt auch zum inneren Erleben
all der dort versammelten und miteinander verbandelnden und verbundenen Menschen
ermöglicht. In einer sehr flüssigen, dem Werk gerecht werdenden
Neuübersetzung liegt nun "Der Spieler" aus dem Jahre 1867 neu
aufgelegt vor. Und bezieht seine psychologische Tiefe nicht nur aus den
Ereignissen im Roman selbst, sondern auch aus dem Wissen um die Entstehung des
Romans.
Dostojewski selbst war lange Zeit spielsüchtig, hatte seine Rücklagen
verbraucht und bildet mit diesem Roman ein eigenes, "echtes" "va
banque" Spiel ab. Vier Wochen Zeit für einen Roman oder ein Leben lang
keine echten Einkünfte mehr. Eine persönliche Verzweiflung, die sich im Roman
zum Ende hin vor allem intensiv wiederfinden wird und einen Ausblick mit
einbringt, was Dostojewski für sich selbst erwartet hätte, wäre ihm der Roman
nicht in dieser knappen Zeit gelungen.
Berechnung gegen Intuition, Leidenschaft der Liebe gegen Gier nach Gewinn (wobei
das Geld wichtig ist, aber das eigentliche wichtige Gefühl dass des Siegens
ist). Eine symbolische, mit echten Süchten und Verhängnissen gespickte
Beispielgeschichte für das Leben und die verschiedenen Haltungen., diesem zu
begegnen. Und eine existenzielle Sicht auf die Tendenz mancher (des?) Menschen,
Hals- über Kopf alles an Verstand beiseite zu schieben um destruktiven,
wachgerufenen inneren Instinkten zu folgen, die Zerstörung seiner selbst und
all derer, die beteiligt sind, in Kauf nehmend.
Was psychologisch spannend ist, was Dostojewski zum Ende des Romans hin auch mit
Tempo erzählt. Ein Tempo, das allerdings lange, lange auf sich warten lässt.
Denn viel Zeit nimmt sich Dosotojewski im Buch, um mit großer Akribie Räume,
Einrichtungen, Stimmungen, Atmosphären und Personen zu beschreiben. Was in
einer Gegenwart, die medial auf "schnelle Schnitte" setzt, eine
Geduldsprobe bei der Lektüre bedeutet.
Und dennoch im abstrakten Sinne nicht nur die Spielsucht konkret, sondern das
Dilemma der Sucht des "immer mehr, immer weiter", des "nicht
loslassen Könnens" gekonnt vor Augen führt. In einer Gegenwart, die
manches Mal wie ein großes, reales Roulettespiel wirkt und Spieler auf
mächtigen Ebenen ebenso mehr und mehr hervorbringt, die von ihrer starren Sicht
und drängenden "Sucht" scheinbar auch nicht mehr lassen können.
Fazit
Immer noch und wieder eine wichtige Lektüre, die Geduld benötigt und nicht auf
jeder Seite den Leser fesselt.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 28. November 2016 2016-11-28 12:47:45