Glasklarer Blick auf das "Innenleben" eines Landes
"Wir zahlen Dir 100.000 Dollar"-
"Dafür, dass ich das Buch nicht schreibe"?
"Nein, im Gegenteil, wir zahlen dir 100.000 Dollar dafür, dass du das Buch
schreibst".
Was den arbeitslosen Fredy außerordentlich verblüfft. Denn das Buch, das er
über den abwesenden, in Kuba im Krankenhaus hermetisch unter Verschluss
gehaltenen Chavez seit geraumer Zeit bereits abarbeitet, kann doch von diesen
Leuten nicht gemeint sein. Nicht dieses kritische Buch. Eher hätte er mit
Härte gerechnet, denn kritisch sein, das kommt nicht an in Venezuela unter
Chavez.
Was auch Sanabria weiß. Der alternde Mann, der genug Zwist in der eigenen
Familie schon erlebt, um seinen ausgleichenden Charakter noch mehr unter
Spannung zu setzen. Sein Neffe im engsten Zirkel des Comandante, der mit dem
Krebs ringt, seine Frau mit vorlauter Zunge, die jenem Chavez alles Mögliche an
Schlechtem wünscht. Und dann diese Kiste, die sein Neffe ihm zur Aufbewahrung
bringt. Mit sehr brisantem Inhalt, zumindest, was das öffentliche Bild des
heldenhaft gegen die Krankheit ankämpfenden Herrschers über das Land angeht.
Eine Kiste, die für eine amerikanische Journalistin bestimmt ist. Welche
fasziniert von diesem Chavez, diesem Charisma, sich auf den Weg nach Venezuela
macht, um den Mann zu portraitieren.
"Ich will ihn interviewen. Er hat Krebs".
In einem harten Alltag, in dem es Schutz auf den Straßen und selbst in den
eigenen vier Wänden nur brüchig gibt. Wie Maria erfahren muss, die mit ihrer
Mutter auf zu Fuß auf dem Weg ist. Bis dieses Motorrad vorbeikommt und der
Beifahrer sich die Tasche der Mutter versucht, zu schnappen. Ein Land unter
fester Hand, rumorend. Ein sozialistischer Herrscher, der von einem Teil des
Volkes wie ein Messias gefeiert und vom anderen Teil ebenso glühend gehasst
wird. Der sich an die Macht putschen wollte, selber einen Putschversuch
überstanden hat. Ereignisse, die den Alltag zermürben, trotz aller
Sozialprogramme, finanziert durch den Ölreichtum des Landes.
"Beatriz hatte schon immer gesagt, dass die Probleme des Landes nur auf
eine Art zu lösen seien. Sie setzte den Zeigefinger auf die Stirn: Mit einer
Kugel……" Der größte Fehler der jüngeren Geschichte sei es gewesen,
Chavez nicht rechtzeitig zu töten.
Eine erodierende Gesellschaft in einem zu Grunde gehenden Land, in dem sich die
Protagonisten mit ihren verschiedenen Zielen und Motiven mehr schlecht als recht
versuchen, sich über Wasser und aus der Schußlinie zu halten. Und das, wo die
Verhältnisse ja noch relativ stabil wirken, der Mann ist ja noch nicht tot, der
Kampf um die Nachfolge noch nicht in aller Härte entbrannt. Eine Atmosphäre,
die Tyszka mit glasklarer Sprache präzise benennt, in der er seine
Protagonisten von den einfachen Dingend es Alltages wie Arbeitslosigkeit und
damit der drohende Verlust der Wohnung bis hin den Fokus der Geheimpolizei
führt. Und dem es im Lauf dieses Romans gelingt, tatsächlich auch, wie
nebenbei, ein Portrait des Comandante zu entwerfen. Assoziativ, biographisch, in
der Erinnerung der Menschen, die den Aufstieg an die Macht sehr verschieden
wahrgenommen haben und sich Chavez damit auch sehr verschieden annähern. Eine
sprachlich und atmosphärisch zu empfehlende Lektüre, die den Leser mitten
hinein nimmt in dieses "unregierbare", "geschüttelte" Land
Venezuela.
Fazit
"Genau das war Chavez gewesen: ein Soldat. Von seiner Natur aus, seinem
Denken, seinem Gefühl. Er vertraute auf Uniformen, nicht auf die
Vielfalt".
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 25. Oktober 2016 2016-10-25 14:54:18