Mit Abstand zu den Ereignissen reflektiert in Andreas Baums Wendezeit-Roman der
Student Sebastian Brandt seine Erlebnisse als Hausbesetzer. Die Wohnungsnot war
groß nach der Wende. Schnell hatte sich eine unkonventionelle Art entwickelt,
Wohnraum zu besetzen und sich im "Amt" einen Mietvertrag dafür zu
holen. Im Windschatten der Besetzungen in der Rigaer Straße in
Berlin-Friedrichshain hat sich Sebastian den Besetzern eines gigantischen
Gründerzeit-Komplexes aus Wohnhäusern, einem ehemaligen Kino und einem
Fabrikgebäude in der Badstübnerstraße angeschlossen. In Nebengebäuden Raum
für Handwerk, Theater und andere Projekte zu haben, das klingt märchenhaft.
Doch wer schon ein alternatives Wohnprojekt mit geplant hat, kennt die
Fallstricke, wenn Basisdemokratie in endlosen Plenumssitzungen die Lebenszeit
auffrisst.
70 Bewohner gibt es in dem besetzten Komplex offiziell. Paarbeziehungen
untereinander, Kindererziehung, Drogenkonsum, Vegetarismus contra Fleischkonsum,
Neid, die Konkurrenz zu anderen Besetzergruppen, eine brisante Gruppendynamik
entsteht. Wenn täglich mit der Räumung des Komplexes zu rechnen ist, werden
Sexismus und Vegetarismus zum Nebenwiderspruch und müssen – leider –
warten. Offiziell wird zwar vor dem Einzug das politische Bewusstsein von
Interessenten geprüft, doch einige Bewohner scheinen schlicht Freaks zu sein.
Die Wessies müssen sich fragen lassen, ob sie mit der finanziellen
Unterstützung ihrer Eltern überhaupt echte Hausbesitzer seien und nicht nur
Revolution spielten. Prompt muss der einzige Bewohner, der regelmäßig in
einem normalen Job arbeitet, sich mit Salonlinken auseinandersetzen, die ihm
nicht die Wurst auf dem Brot gönnen.
Wie viele andere ist Sebastian aus dem Westen ins wiedervereinigte Berlin
gekommen. Student ist er nur noch formal, Hausbesetzer wird sein Hauptberuf.
Bald genügt es nicht mehr, alternativ leben zu wollen, jemand muss sich um die
Kassenführung und die Instandhaltung der Gebäude kümmern. Der Typus des
revolutionären Handwerkers ist plötzlich gesucht. Wer renoviert und Steine
schleppt, hat jedoch bald keine Zeit mehr für Politik. Während Sebastian noch
mit seiner Selbstfindung beschäftigt ist, sitzen ehemalige Bürgerrechtler
längst an den Schaltstellen in Berliner Ämtern – und den Besetzern am
Verhandlungstisch im Roten Rathaus gegenüber.
Fazit
Vor der Kulisse der Hausbesetzungen in der Rigaer Straße spielt Baums fiktive
Handlung einer Hausbesetzung und darin wiederum die Desillusionierung des
Icherzählers Sebastian. Sebastians verzögertes Erwachsenwerden zwischen
geplantem Studium und alternativem Projekt hat hohen Wiedererkennungswert - und
ist ein winziges bisschen ironisch angelegt.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 28. September 2016 2016-09-28 07:51:17