Eugen Ruge beschreibt ein utopisches Szenario aus dem Jahr 2055. Das Leben ist
ein täglicher Kampf um Selbstoptimierung und die Selbstinszenierung in
sozialen Medien, aber auch um die Sicherung privater und beruflicher Daten vor
Manipulation von außen. Das Horrorszenario der Totalsperrung des eigenen
Accounts würde das Ende der virtuellen Performance und damit das Ende des Ichs
bedeuten. In der nahen Zukunft gibt es drei Geschlechter, männlich, weiblich
und transgender.
HTUA-China ist längst in drei kommerzielle Zeitzonen geteilt. Es liegt nahe,
dass der Mensch sich der Produktion anpassen musste. Hier ist als globaler
Pendler Nio Schulz unterwegs, um sein "True Barefoot Running" zu
vermarkten, von dem ich mich zunächst gefragt habe, ob es Ware oder
Dienstleistung ist. Begriffe aus dem Bereich Produktion und Verkauf wirken in
Schulz' schöner neuer Welt euphemistisch hohl. Hier wird nicht mehr mit Waren
gehandelt, sondern mit Identitäten. Nio ist von allerlei fortgeschrittenen
Schnickschnack abhängig, seinen Stimmungsaufhellern und Appetitzüglern, seinem
Motivationscoach, aber auch dem Funktionieren der Fingerabdruck-Sensoren seiner
Geräte, um überhaupt arbeiten zu können.
Schulz' ist aus seinem Hotel in HTUA-China verschwunden, Behörden mehrerer
Länder fahnden nach ihm. Da die - beklemmend authentisch wirkenden - Dokumente
der chinesischen Polizei automatisch übersetzt wurden und kein mitdenkender
Mensch die Texte korrigierte, ist nicht schwer vorstellbar, dass Schulz zum
unschuldigen Opfer einer Übermittlungspanne wurde. Schulz'
Persönlichkeitsprofil, aus der Verknüpfung zahlreicher Daten resultierend,
rechnet nun ein Algorithmus zu seiner zu erwartenden Delinquenz hoch.
Beziehungen sind längst zu statistischen Parametern geschrumpft. Obwohl ich
Schulz bisher als Individuum wahrgenommen habe, begann ich an diesem Punkt zu
fürchten, dass die Behörden längst ein Phantom oder eine statistische Größe
jagten, die mit dem Geschäftsreisenden Schulz kaum etwas gemeinsam haben.
Vielleicht ist der Mann auch einfach zu simpel, um 2055 unverdächtig sein zu
können.
Mit einem Riesenschritt schreitet Ruge nun um 10 Generationen zurück und
erzählt von diesem Punkt aus im schnellen Vorlauf die Geschichte der Umnitzers,
Schulz' Vorfahren väterlicherseits. Das Ganze wirkt wie ein Countdown, wer das
Säuglingsalter überhaupt überleben und Pest und Ruhr überstehen wird. In
Schulz' Familie gab es bereits einen Aufrührer, der gegen Leibeigenschaft in
der Landwirtschaft war. Gesellschaftliche Aufsteiger, Gewerkschafter und
überzeugte Kommunisten, die Umnitzers bieten ein buntes Programm pommerscher
Dickschädel auf.
Wenn heute bereits künstliche Intelligenz mit dem Menschen kommunizieren und
seine Handlungen vorausberechnen kann, worüber sollen überhaupt noch utopische
Romane geschrieben werden, könnte man sich fragen. "Follower" zeigt
sich als intelligenter Roman u. a. über die Abwesenheit von gesundem
Menschenverstand in automatischen Abläufen. In Ruges Szenario muss sich
menschliches Denken Programmen anpassen, menschliche Sprache muss von Automaten
und Suchmaschinen zu verarbeiten sein. Sprache definiert und erklärt nicht
mehr, sie macht unkenntlich. Mehrfache Wortbedeutungen führen direkt in die
Katastrophe, wie wir an Nio Schulz' Schicksal verfolgen können.
Fazit
Eugen Ruge – der mit einer seiner Figuren das Geburtsjahr gemeinsam hat –
beherrscht als Mathematiker die Kunst des utopischen Romans offensichtlich
perfekt. In unendlich wirkenden Sätzen über Absätze und Seiten hinweg, in
einer atemlos wirkenden, sintflutartigen Erzählweise ein großartiger
utopischer Roman.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 29. August 2016 2016-08-29 09:07:35