Der moderne Mensch ist von der Maschine überfremdet worden. Er wird der
Maschine funktional untergeordnet, so daß der Mensch selbst nicht mehr in
seiner Menschlichkeit präsent ist. Dies war die Grundannahme der
Kulturphilosophen Hans Freyer und Oswald Spengler. Technologie wird als
allumgebendes Arbeitssystem entworfen, Verwaltung und Staat ordnen sich ihr
unter. Die Konsequenz dieser Entwicklung ist der Mangel an individueller
Differenzierung, an Initiative, Originalität und eigenem Bewußtsein. Das
"sekundäre System" (Freyer), dessen Essenz die konzentrierte Macht
der Technik, die IT-Revolution der Gegenwart ist, führt als Ideologie in die
Erfahrungsleere, in die Fließbandarbeit, in einen beruflichen Alltag mit
mechanistischer Arbeitsteilung, in welchem virtuelles Geschehen allein die
Erfahrungswelt prägt und sich als allein real aufdrängt.
"Warum ist nicht alles schon verschwunden" ist nun auch die letzte
Frage und der letzte Text des Philosophen Jean Baudrillards, der am 6. März
2007 verstarb. Darin entwirft er eine neue Bildtheorie mit der Möglichkeit
einer kritischen Sicht auf jene Digitalisierung des Denkens im sekundären
System, das vom "Verschwinden des Realen" geprägt sei. (6) Keine
Frage, daß auch für den Autor die natürliche, quasi primäre Welt damit auf
Distanz gehalten wird. In einer überraschenden Denkbewegung führt Baudrillard
in diesem dichten philosophischen Text den Leser von den Modi des Verschwindens
bei Mensch und Maschine über den Nachweis des geheimen Fortlebens scheinbar
verschwundener Ideologien, Werte und Verbote hin zur Unmöglichkeit der
Repräsentation von Realität im Digitalen. "...und von allem, was
verschwindet, bleiben Spuren." (16) - Eine beruhigende Erkenntnis
angesichts einer Entwicklung, welche das Leben vollends ins Digital-Virtuelle zu
verlagern gedenkt. Aber Spuren von Ideologie, Institutionen und Werte bleiben
erhalten.
In einer Welt, die in allen Bereichen sich selbst überflüssig macht, sieht
Baudrillard sogar, daß das Subjekt verschwindet. (18) Die Thesen des Autors
sind unkonventionell aber in grassierender Weise wahr, selbst wenn er oft im
akademischen Abseits stand, was man wohl eher als Ehre denn als Defizit
verstehen sollte. Endgültig ins Abseits geriet er, als Alan Sokal seine Attacke
gegen den "eleganten Unsinn" aus Frankreich ausführte. Dennoch!
Baudrillard ist weniger akademisch "verbrannt" als vielmehr
Diagnostiker der globalen Gesellschaft, die von Medien, Kommunikation und
Warentausch zusammengeschmolzen wird und in der die primäre Erfahrung verloren
geht - nicht nur in der Welt der Objekte, sondern auch im Menschen selbst:
"Das gleiche Schicksal der Digitalisierung erwartet auch die mentale Welt
und das gesamte weite Feld des Denkens." (29) Das vorliegende Buch macht
deutlich, daß zwar weiterhin vieles in der Welt passieren, aber nichts mehr
wirklich geschehen wird. Blicken wir die Nachrichten an, so sind dies dieselben
Themen wie vor wenigen Jahren oder vor 20 Jahren. Der Bildschirm wird zum Ort,
auf dem sich künftig alles ereignet. Er vermittelt den virtuellen Sinn, der
zugleich dekonstruiert werden kann. Derealisierung und Virtualisierung,
Machtergreifung der Maschine und der Glaube an den Fortschritt des Digitalen -
der kritische Meinungsstreit entlarvt sich als reines Theater. Das Verschwinden
des Echten in diesem Theater und der Tod sind offenbar auch die favorisierten
Themen des Autors. Er kommt am Ende zur erschütternden Erkenntnis: "Am
Ende der Machtergreifung dieser Maschine, (...), wird deutlich, daß der Mensch
nur um den Preis seines eigenen Todes existiert." (45)
Fazit
Wir haben hier ein ernstzunehmendes Buch vor uns liegen, dessen Thesen zu
aktuellen Entwicklungen bedacht werden müssen, ohne zugleich die Vorteile der
Digitalisierung zu leugnen, denn wenn am Ende über die Virtualisierung eine
virtuell gesteuerte Beliebigkeit der Nachrichten und Informationen eintritt und
alles wahr oder falsch sein kann, dann geht die Radikalität und Beliebigkeit
des Virtuellen in die einzelnen realen Dinge und das Bewußtsein des Menschen
über, und es gibt keine Sicherheiten und Gewissheiten mehr. Was würde das am
Ende bedeuten?
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 05. April 2008 2008-04-05 15:42:25