Boris Reitschusters Putin-Biographie ist nicht nur die aktuellste, sondern
meines Erachtens auch die bislang beste aller erschienenen Putin-Biographien.
Der Autor zeigt eindeutig auf, dass sich Russland unter Putin auf dem Weg
rückwärts in den autoritären "starken" Staat befindet und Putin
eindeutig - wie übrigens auch Jurij Andropow - nicht zu den Reformatoren,
sondern zu den Gegenreformatoren zu rechnen ist - wie Stalin oder Alexander III.
Scharf kritisiert Reitschuster die Ausblendung der Realität in Rußland durch
führende westliche Politiker, die die Realität - etwa des grausamen
Tschetschenien-Feldzuges, nicht beim Namen nennen. Deutlich wird auch, dass
Putin gegen die Oligarchen eingestellt ist. Putin hat auch alle Jelzin-Anhänger
inzwischen ausgebootet. Nicht nur Jukos-Chef Chodorkowski befindet sich in Haft,
alle wichtigen Oligarchen sind inzwischen entweder aus dem Land geflohen oder
üben keinen politischen Einfluss mehr aus.
Wenn man sich den Alltag im Rußland Putins vergegenwärtigt (so schildert der
Autor ausführlich im ersten Kapitel die verschärften Einreise- und
Visabestimmungen, so fühlt man sich an das Rußland des Marquis de Custine von
1839 erinnert. Doch der Westen drückt ein Auge zu, weil er in Putin den
Garanten von Stabilität sieht.
Zeichnet sich die im vergangenen Jahr erschienene Biographie von Timoschenko
durch Schönfärberei aus, so bietet Reitschuster ein realistisches Bild der
russischen Zustände unter Putin. Der Autor, Jahrgang 1971, kennt das Land seit
anderthalb Jahrzehnten und lebt mit einer russischen Frau in Moskau seit 1990.
Dies gibt dem packend und fesselnd geschriebenen Buch eine ungewöhnliche
Authentizität. Mit enormer Einfühlungskraft beschreibt er das russische
Dilemma: einerseits führt die scheinbare "Stärke des Staates" zu
einem Ausbau von Bürokratie und Machtinstrumenten, anderererseits zu einer
völlig korrupten Staatsmaschinerie, wie dies ja auch Kerstin Holm in ihrem
hervorragenden Buch: "Das korrupte Imperium" gezeigt hat. Putin mag
liberaler sein als andere Geheimdienstler, auf die er sich stützt: langfristig
führt er - so zeigt Reitschuster korrekt auf - in die autoritäre Diktatur
zurück. Aufgrund der Machtkonzentration, die in Rußland alleine beim
Präsidenten liegt, kann auch nur dieser "Reformen von oben"
durchführen - und genau dazu ist Putin nicht willens. Nach der Jukos-Affäre
spräche wenig dafür, dass Putin noch als Modernisierer in die Geschichte
eingeht - da hat Reitschuster sehr sehr recht. Die von anderen Biographen - etwa
Alexander Rahr -
herausgestellte Prägung durch den früheren Petersburger Oberbürgermeister
Sobtschak, einem Demokraten, reichte nicht aus, Putins zweite Prägung durch den
Geheimdienst, zu verdrängen. Eine Rolle für das autoritäre Weltbild des seit
2000 amtierenden Präsidenten ist sicherlich auch, dass Putin während der
Periode Gorbatschows, die Rußland Glasnost und Perestroika brachte, in der DDR
verbrachte - die diesen "Neuerungen" ablehnend gegenüberstand. Das
Ende der Sowjetunion, so hat er schon zwei Tage vor Amtsantritt am 31. Dezember
1999 in einem Aufsatz betont, kann er nicht als Befreiung vom totalitären
System erlebt haben. Als er nach Rußland zurückkehrte, war die
"demokratische Aufbruchsstimmung" unter Gorbatschow bereits einer
Enttäuschung über die neue Freiheit, der neuen "Zeit der Wirren"
gewichen.
Genau darin liegt die Stärke des Buches: Putin, immer noch ein Rätsel für
viele Politiker im Westen, wird "verstehbar". Auch seine heftigen
Reaktionen beim Thema Tschetschenien, wo er nach wie vor einen brutalen Krieg
führen läßt (vgl.: "
Der
Krieg im Schatten" / hrsg. von Florin Hassel, Suhrkamp-Verl., 2003)
zeigt deutlich, dass Putin nichts von den Werten einer demokratischen
Zivilgesellschaft verinnerlicht hat. Er sieht den Kampf gegen Tschetschenien als
Kampf gegen die Terroristen. Doch müssen dafür ganze Dörfer ausgerottet
werden? Es ist eine traurige Bilanz, die Reitschuster vom neuen
"Putinesien" zieht - aber meines Erachtens eine realistische. Sie
erinnert in der Tat sehr an die kritischen Betrachtungen des Marquis de Custine
aus dem Jahre 1839. Wie wenig sich doch geändert hat in Rußland! Diesen
Tatbestand zeigt eindrucksvoll das vorliegende Buch, welches auch eine Bilanz
von 4 Jahren Putin enthält. Es ist daher aktueller als die - an sich ebenfalls
sehr guten - Putin-Biographien von
Alexander Rahr oder
Wolfgang Seiffert, die im Jahre 2000
zum Amtsantritt Putins erschienen sind.
Leider fehlt eine Analyse der Putinschen Außenpolitik, die sich ja nach dem 11.
September 2001 geändert und dem Westen angenähert hatte. Der eindeutige
Schwerpunkt liegt auf der Innen- und Gesellschaftspolitik des Landes, um die
These von Putins Rückkehr zum autoritären Staat zu illustrieren. Dennoch
hätte ein Kapitel über die Putinsche Außenpolitik unbedingt in diese
Biographie mit hineingehört. Dies empfinde ich als Manquo und vergebe daher
nicht die volle Punktzahl.