Mit leichter Skepsis habe ich den ersten Band der Erinnerungen Helmut Kohls, dem
ich persönlich eher kritisch gegenüberstand, gelesen. In nicht angenehmer
Erinnerung war mir sein 2000 veröffentlichtes "Tagebuch" geblieben,
welches vor Larmoyanz und Selbstgerechtigkeit triefte - so meine -
zugegebermaßen harsche - Sicht. Erstaunt muss ich feststellen, dass die
Erinnerungen Kohls, zumindest was diesen ersten Band angeht, wesentlich
interessanter sind. Nach wie vor fehlt Kohl jegliche Distanz zu sich selber - er
unterteilt nach wie vor die Welt dualistisch in Freunde und Gegner,
Zwischenpositionen gibt es auch hier kaum. Man lese die kritischen Einlassungen
gegenüber Biedenkopf, Strauss oder Johannes Rau nach.
Dennoch sind diese Erinnerungen - Helmut Kohl sprach davon, keine "Memoiren
der Rache" zu schreiben - insgesamt doch erstaunlich abgeklärt und fast
"altersmilde". Packend die Schilderung seiner Jugend, seines
Aufstieges in Rheinland-Pfalz, wo sich der junge CDU-Landesvorsitzende gegen
Ministerpräsident Altmeir durchsetzte, die Schilderung seines Kampfes um die
CDU-Führung gegen Barzel, den er - im Gegensatz zu früheren Einschätzungen
eher milde beurteilt, die Beschreibung seiner Zeit als Ministerpräsident (hier
geht er ausführlich auf Aspekte des Amtes ein, die in der Öffentlichkeit
weniger bekannt sind etwa das Begnadigungsrecht, für das sich Kohl
interessierte und einen regen Austausch mit dem ihm menschlich verbundenen
sozialdemokratischen Bundespräsidenten Heinemann führte), als
Oppositionsführer bis 1982. Diese letzte Zeit ist spannend geschrieben worden.
Auch Fehler gibt Kohl zu - etwa den, die Sicherheitskonferenz in Helsinki
abgelehnt zu haben oder die Anliegen Herbert Gruhls, des aus der Union
stammenden späteren Gründers der "Grünen" zu seiner Zeit nicht
ernst genommen zu haben.
Überhaupt fällt die sehr personale Sicht seiner Erinnerungen auf. Die
Beziehungen zu Personen, schnell in ein Raster - Freunde oder Gegner eingeteilt
- sind Helmut Kohl am wichtigsten. So hat er ja auch später als Regierungschef
fungiert.
Interessant auch bestimmte Neuigkeiten: wer wußte etwa, dass der Nachfolger des
verstorbenen Franz-Josef Strauß als bayerischer Ministerpräsident in Bayern,
Streibl, zur CDU wechseln wollte, falls nach Kreuth 1976 die CSU als bundesweite
vierte Partei gegen die Union angetreten wäre. Oder, dass Axel Springer im
Auftrage von Strauß Kohl 1979 auf das Amt des Bundespräsidenten wegloben
wollte, um den Rivalen in Sachen Kanzlerkandidat loszuwerden.
Sehr bewegend geschildert ist die Zeit des Terrorismus, insbesondere seine
Beziehung zu Schleyer. In bewegenden Worten schildert Kohl hier den
unglaublichen Gewissenskonflikt, den er als persönlicher Freund von Schleyer
hatte, als er erkannte, aus Staatsraison dessen Leben opfern zu müssen.
Rezensenten haben Kohl an dieser Stelle eine gewisse Gefühlskälte vorgeworfen.
Dies kann ich nicht teilen. Dieses Kapitel ist für mich das bewegendste des
ganzen Buches.
Fazit: es handelt sich um lesenswerte Erinnerungen. Kohl schildert sich hier so,
wie er gesehen werden möchte und legt subjektiv seine Sicht der Dinge dar. Das
Buch ist dennoch ein wichtiges zeitgeschichtliches Dokument, etwa wenn Kohl
seine Sicht des Zustandekommens des Nato-Doppelbeschlusses darlegt, der das
zentrale Thema der Sicherheitspolitik im Fokus des Ost-West-Konfliktes zwischen
1977 und 1983 bildete. Sicherlich ist Kohl von seiner Politik überzeugt. Im
Gegensatz zu seinem sehr emotionalen "Tagebuch", welches auf dem
Höhepunkt der Spendenaffaire erschienen ist, findet sich hier jedoch keine
Selbstbeweiräucherung oder Larmoyanz. Auch die Referenz an seine verstorbene
Frau Hannelore, an der er sehr gehangen hat, ist bewegend.
Fazit
Ein durchaus fesselndes, wenn auch subjektives Werk der Zeitgeschichte, welches
durchaus zu einem Standardwerk werden könnte.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 06. März 2004 2004-03-06 19:55:21