Sie hat heute ihren siebten Geburtstag und freut sich auf die Geschenke. Doch es
gehen ihr an diesem Tag so viele Gedanken durch den Kopf. Deshalb erzählt sie
uns davon. Sie erzählt von ihren Großeltern, von Mutter und Vater, vom Abhauen
aus dem Osten in den Westen, von Tante Eka im Flüchtlingslager mit ihren zwei
Männern Onkel Grewatsch und Onkel Winkelmann mit seinen vielen Büchern und
Geschichten. "Das war das Schöne im Flüchtlingslager gewesen. Weil Onkel
Winkelmann mir das alles erzählte und aus seinen Büchern vorlas, konnte ich
mich an all die fremden Gewürze in der Gemeinschaftsküche sofort erinnern,
obwohl ich sie gar nicht kannte und niemals gerochen hatte, aber Onkel
Winkelmann und die aufgefädelten Buchstabengeschichten in seinen Büchern
erzählten sie so genau, dass ich sie in der Nase hatte und jedes Mal Lust
bekam, einen Löffel davon zu probieren." Sie erzählt vom Leben im
Flüchtlingslager und von der Arbeitersiedlung, die danach folgte.
Ihr siebter Geburtstag ist irgendwann in den 1960er Jahren. Einen Namen hat sie
in dieser Geschichte nicht. Denn schließlich sagt Mutter immer. Kind, was soll
ich mit dir bloß machen? Oder: Kind, was soll aus dir bloß werden?
Birgit Vanderbeke hat als Erzählstil den eines siebenjährigen Mädchens, bzw.
das, was sich ein Erwachsener darunter vorstellt, gewählt. Das ist im ersten
Moment ungewohnt. Doch nach wenigen Seiten gibt sich das. Der Stil wird einem
vertraut, man lässt sich darauf ein, dass ein Kind erzählt. Er wirkt sehr
authentisch, und der Leser kann feine Ironie und leichten Sarkasmus spüren.
Humor wäre jetzt zu weit hergeholt, denn das, was sie in ihrer kurzen Kindheit
alles schon erlebt hat, ist alles andere als lustig. In ganz wenigen Momenten
erzählt sie alles andere als von einer heilen Welt in den sechziger Jahren.
Doch das Mädchen sucht sich ihre Fluchtpunkte. Ob es "solch eine Person
wie" Tante Eka mit ihren zwei Männern, ihre Freundin Gisela, oder ihr
italienischer Freund Tassilo sind. Und irgendwann findet sie für sich einen Weg
in die ganz große Freiheit. Sie lernt, ihrer Familie zu entfliehen.
Vanderbeke gibt eine genaue Milieustudie der 1960er Jahre wider. Mit der
kindlichen Sprache wird die verlogene und bigotte Welt der westlichen
Kleinbürger besonders gut akzentuiert. Das Thema Flucht aus dem Osten in den
Westen schlägt genauso einen Bogen in die heutige Zeit wie die
Flüchtlingszüge am Ende des Zweiten Weltkriegs in die westlichen Gebiete
Deutschlands. Auch wenn sich die Erzählung auf die damalige Zeit bezieht,
spiegeln sich im Verhalten der Figuren di aktuellen gesellschaftlichen Probleme
wider und es zeigt sich, dass kaum etwas von damals getilgt worden ist.
Fazit
Der Umstand, dass es über den gesamten Roman hinweg kein klar definiertes Ziel
in der Geschichte gibt, macht den Roman nicht weniger lesenswert. Denn er
fesselt zweifelsohne aufgrund der spielerischen Erzählweise. Interessierte
Leser werden an den Figuren und dem Umfeld kleben bleiben.
Vorgeschlagen von Detlef Knut
[Profil]
veröffentlicht am 21. September 2016 2016-09-21 20:50:49