Leonid Jusefowitsch ist ein Name, den man sich merken sollte, wenn man an
historischen Kriminalromanen aus Russland interessiert ist. Nach den
Fandorin-Romanen seines Kollegen Boris Akunin (die meines Erachtens leichter
lesbar sind), ist der vorliegende Band der erste, in welchem der legendäre Chef
der Sankt Petersburger Geheimpolizei, Iwan Akunin, ermittelt. Im April 1871 wird
der österreichische Diplomat Fürst Ludwig von Arensberg in seinem Schlafzimmer
ermordet. Der Mann, ein Frauenheld, Raufbold und leidenschaftlicher
Kartenspieler, hat viele Feinde. Da ist zum einen der Staatsbeamte Strekalow, zu
dessen Gattin der ermordete Diplomat ein Verhältnis hatte. Ist also Rache eines
eifersüchtigen Ehemanns das Mordmotiv? Oder ist gar Graf Chotek, der
österreichische Botschafter selber der Mörder, dem das forsche und
selbstbewußte Auftreten des Fürsten ein Dorn im Auge war? Um eine
diplomatische Krise zwischen Rußland und Österreich-Ungarn zu verhindern, muss
der Mord schnellstmöglich aufgeklärt werden...
Der Roman selber ist eindeutig an Dostojewski geschult. Reminiszenzen findet man
insbesondere an Teile der "Brüder Karamasow", an den auch die Lösung
orientiert ist, die hier natürlich nicht verraten werden soll. Stark an
Dostojewski erinnert auch die Methode, einen "allwissenden Erzähler"
einzusetzen, der die Aufzeichnungen der Hauptperson editieren soll (so etwa in
den "Dämonen" oder den "Aufzeichnungen aus einem toten
Hause".) Hier ist es der Sankt Petersburger Schriftsteller Safronow, der
die Memoiren Putilins nach dessen Tod 1893 editieren soll. Diese Technik erhöht
die Spannung, da der Herausgeber einerseits einen Wissensvorsprung vor dem Leser
hat, andererseits von der Hauptperson selber in die Irre geführt werden
könnte. Die Figur des eingeschobenen Herausgebers dient also zwei Zielen: zum
einen erklären sie, warum die "Memoiren" überhaupt veröffentlicht
worden sind. Zum anderen sollen Gedanken der Hauptperson dem Leser vermittelt
werden. Aber wenn diese Gedanken nicht stimmen, so werden falsche Spuren
gelegt.... Es ist das klassische "Watson"-Motiv, welches wir aus den
Sherlock-Holmes-Erzählungen kennen. Sie erhöhen in jedem Fall die Spannung, da
der Leser bis zum Schluss nicht weiß, ob die vom Herausgeber offerierten Spuren
auch echte oder "falsche" Spuren sind und dieser nicht selber Opfer
einer Täuschung geworden ist.
Das vorliegende Buch besticht durch historische Authentizität und einer
faszinierenden Darstellung der politischen Hintergründe zur damaligen Zeit.
Leonid Jusefowitsch, 1947 in Moskau geboren, ist Historiker. Dies merkt man. Er
schafft eine Atmosphäre, die es dem Leser ermöglicht, sich in die geschilderte
Zeit, 1871, zurückzuversetzen.
Das Buch ist jedoch nicht leicht zu lesen, was mit der oben erwähnten
Erzähltechnik zusammenhängt.
Was zu monieren ist, ist die schlechte Edition durch den Verlag. Manche
russischen Namen werden erklärt, andere wiederum nicht (was bedéutet etwa
Gossudar, womit der russische Zar bezeichnet wurde), noch gibt es - bei der
verzwickten Handlung unbedingt nötig - ein Namensregister der beteiligten
Hauptpersonen. Außerdem erscheint die Übersetzung von Alfred Frank
ausgesprochen schlecht zu sein. Ein Beispiel dafür: so heißt es auf S. 48/49:
"Das Erschreckende an der Ermordung von Arensbergs war für viele, dass die
Mörder...die Existenz dieser Macht gänzlich vergessen zu haben schienen. Das
zu glauben fiel schwer. So etwas kann es doch nicht geben, erst recht nicht in
Russland. Nein, meinte Schuwalow, die Verbrecher haben nichts vergessen. Sie
haben daran gedacht, und wie sie daran gedacht haben! Gerade deshalb haben sie
den Mord begangen." Von welcher Macht hier die Rede ist - vorher wird vom
"eisigen Hauch der Macht" gesprochen, bleibt völlig offen. Göttliche
Vorsehung, Geheimpolizei?
Fazit
Diese Faktoren erschweren die Lesbarkeit sehr. Daher vergebe ich auch nicht die
volle Punktzahl des ansonsten sehr spannenden und gut konstruierten historischen
Kriminalromans.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 06. März 2004 2004-03-06 19:53:07