Zehn Jahre nach dem Tode des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers legt
Peter Merseburger eine fundierte 928-Seiten-Biographie
Willy Brandts vor, der
"sozialdemokratischen Jahrhundertgestalt", wie er den (konservativen)
Historiker Hans-Peter Schwarz zitiert.
Fundiert und auf neuesten Quellen basierend (im Literaturverzeichnis vermisste
ich lediglich die Brandt-Biographie von
Barings "
Machtwechsel" oft herangezogen
wird. Etwas kursorisch wird die Zeit des Konstruktiven Misstrauensvotums 1972
und die Auseinandersetzungen mit der Opposition dargelegt, ausführlicher wieder
die Umstände des Rücktrittes im Zuge vieler Rückschläge im Zuge der
Guillaume-Affaire berichtet. Die Jahre nach der Kanzlerschaft, die
Auseinandersetzung mit Helmut Schmidt um den Nato-Doppelbeschluss und das Ende
der sozial-liberalen Koalition wie private Umstände (die Trennung von seiner -
mit viel Sympathie beschriebenen - Ehefrau Rut und die Neuvermählung mit seiner
letzten Frau Brigitte Seebacher-Brandt) werden ausführlich geschildert.
Insgesamt dürfte Volker Ullrich mit seiner Rezension in der "Zeit"
recht haben: es handelt sich um "die" literarische Neuerscheinung des
Herbstes. Sie ist flüssig lesbar und zeichnet sich durch einen souveränen
Umgang mit Quellen aus. Interessant für mich auch die Auseinandersetzung mit
der SPD-Enkelgeneration 1989/90, als die Möglichkeit der - von der SPD
weitgehend nicht mehr gewollten - Wiedervereinigung angeschnitten wird.
Merseburger erklärt, Willy Brandts Wort von der "Lebenslüge der
Republik" sei nicht gegen die Wiedervereinigung an sich gerichtet gewesen,
sondern lediglich gegen die Illusion, Wiedervereinigung im Zuge des
weltpolitischen Ost-West-Gegensatzes erreichen zu wollen, was erkennbar den
Realitäten vor 1989 widersprach. Hier zeigt sich der Realist Willy Brandt.
Nicht umsonst hat die Biographie den treffenden Untertitel: Visionär und
Realist.
Über einige Prämissen des Autors kann man streiten: er sieht Brandt - bei
aller legitimen Verehrung - relativ unkritisch. Die vom Autor als
"gouvermental" beschriebene "Nebenaußenpolitik" der SPD in
den 1980-ger Jahren, als die Solidarnosch und andere Bürgerrechtsbewegungen im
Ostblock von der SPD weitgehend ignoriert wurden, schreibt Merseburger primär
nicht Brandt, sondern
Egon
Bahr zu, der in metternichschen Staatskategorien gedacht habe und die
Gesellschaft vernachlässigt habe. Auch die - für mich unkritische - Übernahme
der Bewertung Herbert Wehners (dessen Beitrag zu Brandts Sturz 1974 gut
herausgearbeitet wird, jedoch durch Baring weitgehend bekannt ist) durch den
früheren DDR-Spionagechef Markus Wolf, der Wehner nicht als "Mann des
Westens" bezeichnet hat (eine Formulierung, die Merseburger unreflektiert
übernimmt), wird dem Beitrag Herbert Wehners und seinem Lebenslauf meiner
Meinung nach nicht gerecht.
Fazit
Dennoch insgesamt eine hervorragende Biographie, die sicherlich ein Standardwerk
der modernen Zeitgeschichte werden wird.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 01. Mai 2002 2002-05-01 00:02:20