Ein tiefer Einblick in die Atmosphäre der Zeit
1933 starb Else Sohn-Rethel, 1928 schrieb sie ihre
"Lebenserinnerungen" auf und nun erst, im Zuge von Recherchen für ein
anderes Buch, hat Hans Pleschinski diese Erinnerungen entdeckt und nun
kommentiert herausgegeben.
Erinnerungen, die den Leser nicht nur in eine konkrete Zeit (den Anfang des 20.
Jahrhunderts) führen, sondern auch in eine konkrete kulturelle Schicht (jene
der durchaus wohlhabenden Künstler in Deutschland) und eine konkrete
Lebensweise (sorglos, interessiert, ästhetisch, künstlerisch interessiert).
Ein Einblick, der nicht nur ein "anschauliches Bild eines deutschen
assimilierten Judentums" mit all seiner Kultur, seiner Kunst, seiner
Unterstützung für die Kunst aufzeigt, sondern darüber hinaus ebenfalls einen
bleibenden und sprachlich wunderbar formulierten Eindruck der Haltung der
Künstler und Intellektuellen in jener "Umbruchzeit" vermittelt.
Das "Weltbürgertum", der Wert eines Menschen, "der etwas zu
sagen hat", Verbindungen untereinander, all das schwingt in den
Lebenserinnerungen von Else Sohn-Rethel mit.
"Else Sohn-Rethel schwirrte wachsam durch Leben und Welt".
Und traf als "freier Geist" auf viele "freie Geister". Auf
bekannte Künstler ihrer Zeit, auf Freidenker und Schriftsteller, auf eine ganze
Welt der Ästhetik und Kunst, die an den Klippen der Zeit letztendlich
zerschellte.
Im Rückblick auf die vielen Begegnungen bereits im Hause der Eltern ist
Soh-Rethel mühelos in der Lage, nicht nur die besondere Atmosphäre innerhalb
und unterhalb der Künstler in den Blickpunkt zu rücken, sondern ebenso einen
Einblick in die Arbeitsweise, das Umfeld, das Denken jener Kulturschaffenden zu
vermitteln, das den Leser mitten hinein nimmt in jene tastende Suche nach
"dem nächsten Werk" von, vor allem, Malern und Musikern.
"Früh am Morgen wurden wir von den Klängen des Brautchores aus dem
Lohengrin geweckt, eine Kapelle war bestellt".
So beginnt der Morgen der eigenen Hochzeit, die Sohn-Rethel ebenso bildkräftig
dann schildert, wie sie andererseits auch nüchtern und sachlich vom eigenen
Hauskauf berichtet.
Alltäglichkeiten, die für den Leser vielfache Besonderheiten durch den
"ganz normalen" Umgang mit Künstlern in einem gesicherten,
wohlhabenden Umfeld zu erzählen wissen.
Ein Alltag auch, in dem zwar die Veränderungen der Zeit, Kriege, auch der
zunehmend völkische Gedanke und der erstarkende Antisemitismus bekannt waren,
aber doch weit weg erschienen und das großbürgerliche Leben wenig zu berühren
schienen.
So tragen die Erinnerungen auch eine unschuldige, sorglose, auf "die
schönen Seiten des Lebens" hin zugewandten Seite in sich, die im Nachgang
berühren und diese Atmosphäre besonders nahe kommen lassen.
Fazit
Salons, besondere Feste, das liberale Denken dieser Gruppe von Menschen im
Besonderen angesichts eines immer enger werdenden allgemeinen
"Zeitgeistes", Hans Pleschinski hat hier in bester Weise einen
besonderen, persönlichen Einblick in eine besondere Lebenssituation im Gang auf
eine "Zeitenwende" selbst hin zu vorgelegt, die auch in ihrer
sprachlichen Form flüssig und anregend zu lesen ist.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 09. Juni 2016 2016-06-09 10:32:24