Wenn ein Vater gleich für mehrere Wochen verschwindet und seinen Sohn allein
mit einem großen Geldbetrag zurücklässt, denke ich automatisch an Herrndorfs
Tschick. Doch André
Kubiczeks sommerliche Liebesgeschichte aus der DDR der Vorwendezeit ist mit
Tschicks tragikomischem Road-Movie nicht zu vergleichen. Sein Icherzähler
Réné hat Sommerferien vor sich, die es so nicht wieder geben wird. In den
Genuss einer sturmfreien Bude Marke DDR kommt er im Sommer 1985, weil sein Vater
nach Überprüfung durch die Stasi am Gipfeltreffen Reagan/Gorbatschow in Genf
teilnehmen wird. Die Mutter ist verstorben, ein Thema, an das der Junge ungern
rührt.
Der Sechzehnjährige und seine Kumpels Michael und Dirk sind begeisterte Leser
von Klassikern. Neue Welten tun sich in den Romanen auf und lassen den
Wortschatz der Jungen explosionsartig wachsen. Die drei sind bei Lehrern
gefürchtet; denn ihre von der Klassikerlektüre befeuerte Rhetorik ist im
ostdeutschen Bildungssystem nicht vorgesehen. Der bürokratische Sozialismus
legt besonderen Wert darauf, sich auch sprachlich von der "BeÄrrDeh"
abzugrenzen, so absurd seine Wortschöpfungen auch sein mögen. Wer sich
"echauffiert", unterwandert damit schon rein sprachlich den
Sozialismus. Die Jungs argumentieren weit weg von der erlaubten Norm; sie
sinnieren, warum im real existierenden Sozialismus selbst Bücher längst
verstorbener Autoren als Bückware unter dem Ladentisch für Klempner und
Automechaniker zurückgelegt werden. Leser wie sie selbst gehen oft leer aus.
Wie beinahe jede Ware muss in den 80ern-Ost selbst Papier knapp gewesen sein und
der Lesehunger der drei Freunde bekommt dadurch etwas Dekadentes. Réné leistet
sich zum Geburtstag von Papas Geld ein seltenes Werk Baudelaires, das offiziell
nur in einem Exemplar auf dem ostdeutschen Markt zu bekommen ist.
Réné fühlt sich einsam in diesem Sommer. Viele Mitschüler sind verreist, er
spürt aber auch die Sehnsucht nach dem einen Mädchen, das er erst noch treffen
wird. Das Mädchen, dessen Namen er lange nicht kennt, "Fritzis große
Schwester" liegt auf seiner Wellenlänge. Bianca findet Réné sympathisch,
aber er liebt sie nicht. Mit Connie lassen sich wunderbar unkomplizierte und
ereignislose Ferien bei ihrer Oma verbringen, im Rückblick eine besondere Zeit.
Réné muss zunächst den kleinen, aber wichtigen Schritt wahrnehmen lernen
zwischen Freundschaft und erster Liebe. Nach Überwindung seiner Einsamkeit
erlebt Réné diese Liebe als Naturkatastrophe, für die er erst die passenden
Worte finden muss.
Fazit
Unterlegt mit sortenreiner Musikspur West erweckt Kubiczek das Lebensgefühl im
Potsdam vor der Wende zum Leben. Augenzwinkernd nimmt er aus der Sicht seiner
Figuren auch die absurden Seiten ostdeutscher Schattenwirtschaft und sprachliche
Eigenheiten der sozialistischen Klassengesellschaft aufs Korn. In origineller
und einfühlsamer Sprache erzählt der Autor davon, wie aus Freundschaft erste
Liebe wird. Eine Liebesgeschichte, die ich Lesern aller Altersgruppen gern
empfehle.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 20. Mai 2016 2016-05-20 12:54:15