Die Familie Goldmann teilt sich in zwei Clans auf: Die Baltimore-Goldmans und
die Montclair-Goldmans. Die Montclairs sind eine Mittelstandsfamilie aus New
Jersey, deren einziger Sohn Marcus ist. Ganz anders dagegen sind die Goldmans
aus Baltimore. Markus' Onkel Saul ist erfolgreich und wohlhabend. Sein Sohn
Hillel ein hochbegabtes Genie und sein Adoptivsohn Woody ein Sportass. Zusammen
mit Marcus, der jede mögliche Minute bei seiner Tante und seinem Onkel
verbringt, sind Hillel und Woody die Goldman-Gang. Freunde und Brüder fürs
Leben. Das ändert sich auch nicht, als Alexandra in ihr Leben tritt. Alle drei
Jungs schwärmen für die Tochter ihres Nachbarn Patrick Neville. Doch eines
Tages bricht ihre heile Welt auseinander.
Vor fast drei Jahren landete Joel Dicker mit seinem Roman "Die Wahrheit
über den Fall Harry Quebert" einen phänomenalen Erfolg. Ein Roman, der
mich inhaltlich und sprachlich außerordentlich bewegt hat, und der zu den
besten Romanen zählt, die ich bisher überhaupt gelesen habe. Daher waren meine
Erwartungen an das neue Werk von Joel Dicker so groß, dass ich fast gezögert
habe, diesen Roman zu lesen. Kann der Autor überhaupt in die Nähe seines
Debütromans kommen? Nach einigen sehr bewegenden Lesetagen und etwas Abstand
kann ich sagen, dass Joel Dicker nicht nur an die Klasse seines Debüts
heranreicht, sondern das Kunststück schafft, es noch zu übertreffen!
"Die Geschichte der Baltmores" ist ein so packendes, spannendes
Familiendrama, das eine Sogwirkung erzielt, die ich bei der Lektüre eines
Romans in dieser Form nur ganz selten erlebt habe. Erneut steht, wie bei Harry
Quebert, der Autor Marcus Goldman als Ich-Erzähler im Mittelpunkt des Romans.
Doch während Goldman im ersten Roman in einer Schaffenskrise steckte und seinen
alten Professor besuchte, wird hier die bisherige Lebensgeschichte von Marcus
Goldman erzählt. Daher ist es auch nicht zwingend erforderlich, dass man den
ersten Roman kennt, doch das Lesevergnügen steigert es ungemein, zumal auch der
erste Roman von Joel Dicker in jede heimische Bibliothek gehört.
Was der Autor hier abfeuert, ist ganz großes Kino der anspruchsvollen
Unterhaltungsliteratur. Immer wieder dreht sich alles um ein Ereignis innerhalb
der Familie, das Marcus Goldman als Katastrophe bezeichnet. Auch wenn der Leser
eine Ahnung hat, um was es geht, schafft Joel Dicker das Kunststück, erst auf
den wirklich allerletzten Seiten das komplette Geheimnis zu lüften. Dabei
verwendet er Zutaten, die man aus anderen Familendramen kennt: Liebe,
Eifersucht, Hass und Neid. Die Geschichte der Baltimores ist daher nicht
wirklich neu, aber sie ist so spannend und authentisch, dass man als Leser einen
fast schon unheimlichen Identifikationsfaktor bekommt.
Grund dafür sind, wie schon bei Harry Quebert, die Figuren. Ich-Erzähler
Marcus Goldmann bringt seine innere Zerrissenheit zwischen seiner vermeintlich
armen Familie und den reichen Verwandten sehr authentisch rüber. In wechselnden
Rückblicken wird immer wieder eine andere Geschichte erzählt. Da ist Hillel,
der als Kind aufs übelste drangsaliert wird, da ist Woody, der eine
schicksalhafte Liebe erleben wird, da sind Onkel Saul und Tante Anita, deren
scheinbar perfektes Leben komplett aus den Fugen gerät. Sie alle wurden von
Joel Dicker mit so viel Authentizität ausgestattet, dass es eine wahre Freude
ist, sie kennenzulernen und zu begleiten. Umso stärker bewegt den Leser das
Schicksal, dass ihr geistiger Vater für sie erdacht hat.
Wie schon bei Harry Quebert waren die letzten 150 Seiten so, dass man das Buch
nicht mehr auch nur für eine Sekunde aus der Hand legen möchte. Einerseits
hofft man, dass das Ende bald erreicht ist, um endlich die ganze Geschichte zu
kennen, andererseits nährt sich damit die Gewissheit, dass der Roman damit auch
zu Ende ist und man die Baltimores verlassen muss. Als ich das Ende erreicht
hatte, musste ich tief durchatmen und die ganze Geschichte einige Tage auf mich
nachwirken lassen. Auch das ist für mich ein Indiz für die besondere Klasse
dieses Romans.
Fazit
Ich hätte es nicht für möglich gehalten, das Joel Dicker die Klasse seines
Debütromans mühelos übertrifft. Für mich ist "Die Geschichte der
Baltimores" definitiv eines dieser Lebensbücher, die einen längere Zeit
begleiten werden. Da ich selbst Autor bin, ziehe ich meinen Hut vor dem, was
Joel Dicker hier geleistet hat. Er erzählt eine Familiengeschichte, die auf
allerhöchstem Niveau unterhält, bewegt und tief berührt. Ich habe mich lange
nicht mehr so gut unterhalten. Und auch wenn es vielleicht noch weitere Bücher
gibt, die in diesem Jahr die Höchstwertung erhalten, dieses Buch ist definitiv
das Buch des Jahres 2016!
Vorgeschlagen von Michael Krause
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veröffentlicht am 17. Mai 2016 2016-05-17 11:42:52