Überragend
Schon die Titelwahl für Reinhards epochale Nachzeichnung der europäischen
Expansionsgeschichte trifft es auf den Punkt, spricht Bände und legt seine
Prämisse offen vor die Augen des Lesers.
Die Expansion Europas war von Beginn (1415) und ist bis in die Gegenwart (2015)
hinein eine, wenn auch oft diplomatisch verbrämte, intrensisch aggressive
Entwicklung, die nicht auf Kooperation, sondern auf Unterwerfung der
"Objekte der Begierde" an Nationen, Ländern, Ressourcen und vielem
mehr hin ausgerichtet.
Über (mit Literatur und Quellenangaben) 1640 Seiten, eng bedruckt, bietet diese
Neuauflage der ehemals vierbändigen Ausgabe aus den Jahren 1983 bis 1990 immer
noch den wohl umfassendsten Eindruck auf diesen elementaren Teil der
europäischen Geschichte.
Dabei erfährt der Text einiges an Erweiterungen zur damaligen Ausgabe und
Reinhard rekurriert ebenso darauf, dass ein damals eher noch marginales Thema
(der Flucht-Druck aus unhaltbaren Lebensumständen oder aus dem Zusammenbruch
"funktionierender" System heraus geschehen), das die Welt umfassend in
"Bewegung" gebracht hat, nunmehr vehement weltweit im Mittelpunkt der
öffentlichen Diskussion anzutreffen ist.
Und immer noch gilt der Befund Reinhards: "Europa ist immer noch expansiv,
obwohl seine weltgeschichtliche Führungsrolle längst der Vergangenheit
angehört" (eine Rolle, die Reinhard breit, fundiert, in die Tiefe gehend
und damit umfassend im Buch vom Beginn der Kolonisation an aufarbeitet).
Als Wirtschaftsmacht aber hat es sich eine führende Rolle in der Welt bewahrt.
Mehr noch, die Wirtschaftsmacht des gegenwärtigen Europas fußt in nicht
geringen Teilen auf der "Unterwerfung" der Vergangenheit und ist damit
als solche bereits generell kritisch zu hinterfragen, auch auf der Blaupause der
gegenwärtigen Haltung einer kooperativ scheinen wollenden Politik und eines
Ausgleichs in der Welt.
Dennoch stimmt auch, was Reinhard feststellt, dass nicht mehr mit militärischen
Mitteln (primär) Expansion betrieben wird (auch wenn militärische Mittel durch
den gezielten Verkauf in bestimmte Regionen indirekt "mit
eingreifen").
Das dabei dennoch auch "Säbelrasseln" in Kauf genommen wird (siehe
der Konflikt mit Russland über die Expansion in die Ukraine hinein), zeigt aber
ebenso wiederum auf, dass die "Lust am Ausweiten" ungebrochen
vorhanden ist, gepaart, wie Reinhard aufweist, mit einer historisch verankerten
Form der Überzeugung, damit im Recht und auf gutem Wege zu sein.
Ebenso aber ist Reinhard in der Lage, die inne liegende Notwendigkeit für diese
"Grundhaltung" durch die Jahrhunderte hindurch und auch für die
Gegenwart noch gültig nachzuzeichnen, denn Europa selbst ist ja durch
Expansionsprozesse überhaupt erst entstanden und benötigt im Blick auf
Ressourcen immer weiter und wiederum in der Gegenwart verschärft deutlich
werden Kontakte, Verträge, Verflechtungen mit anderen Weltregionen, um seine
Existenz (wirtschaftlich) zu sichern.
"Von Anfang an war Europa mit dem Begriff der eigenen Expansion
identisch".
Wie es in diesem Konglomerat von Themen dann mit dem Stichwort der
"Unterwerfung" aussieht, gerade in den Epochen, die Reinhard später
untersucht, in denen eine "offene Aggression" nicht mehr "State
of the Art" war, das ist ganz hervorragend und überzeugend im Buch zu
lesen.
Denn es mag sein, dass immer noch gilt, was Reinhard für das Reich Karls des
Großen konstatiert:
"Wie konnte unter diesen Bedingungen politisch ehrgeiziger Wille zur Macht
Erfolg haben? Offensichtlich nur in Rivalität mit anderen, von gleichen
Absichten geleiteten Zeitgenossen.
Das gilt für Karl den Großen ebenso, wie für Könige Frankreichs, für
Napoleon Bonaparte ebenso wie für Hitler (mit seinem Thema des Lebensraums, das
auch nicht originär aus dieser Zeit und von dieser Person stammt).
Und doch gilt für alle Zeiten und Epochen, die Reinhard betrachtet,
letztendlich war es die Wirtschaft, das Geld, die Suche nach finanzieller
Bereicherung, Absicherung und Ausweitung des "Geschäftes", die den
zentralen Druck hinter die Stetigkeit der Expansion gesetzt haben und setzen.
Was dieses Buch auch für die Gegenwart so reich an Anregungen für eine
Diskussion der Werte Ausrichtung Europas und der "eigentlichen
Mächte" macht.
Fazit
Trotz der Fülle, trotz des Ausmaßes dieses Buches (das wirklich nur am Tisch
gelesen werden kann, in seiner verständlichen Sprache und der immensen
Sachkenntnis eine notwendige Lektüre zum Verständnis nicht nur Europas.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 02. Mai 2016 2016-05-02 12:40:57