Analog statt Digital und das mit Recht
Haben in der Gegenwart, jener Zeit der Millionen Bilder auf digitalen Kameras
und, noch mehr und zunehmend auf den Handys der Menschen und in den Clouds der
Sicherungsspeicher, analoge Bilder, Polaroids, Fotos von
"Sofortbildkameras" irgendeinen Nutzen? Braucht das jemand noch? Ja,
auf jeden Fall. Sagt Stephen Herchen nicht nur im Vorwort dieses Bildbandes,
sondern zeigt dieser Bildband von der ersten Fotografie her auf.
Dies, zumindest Menschen über 45 vertraute Bildatmosphäre, dieser besondere
Reiz der analogen Farben, des leichten Bildrauschens, gebannt in
Momentaufnahmen, die sofort Gedanken, Assoziationen wachrufen und den Leser auf
die Spur einer Geschichte bringen. Die gar nicht tatsächlich faktisch geschehen
sein muss, die Fantasiereise ans ich ist schon die ruhige Betrachtung der vielen
Momentaufnahmen im Buch wert.
"Das ist etwas Magisches, ein "instant analog Foto" in der Hand
zu halten".
Ein besonderer, dynamischer Charakter wohnt den Fotografien inne. Allein schon
durch die Klarheit, dass es diese Aufnahme genau nur einmal gibt, sie nicht
beliebig digital reproduzierbar ist, nicht von tausenden von Menschen zur
gleichen Zeit (im Original wohlgemerkt) betrachtet werden kann.
Herchens Vergleich zwischen dem Erhalt einer Email und dem Erhalt eines
handgeschriebenen Briefes trifft dabei den Unterschied bildhaft wunderbar.
Dieses verwachsene Foto von Günter Grass, das Gesicht kaum zu erkennen, ist ein
Paradebeispiel für diese Dynamik des Fotos selbst im Buch und der Dynamik in
der Vorstellungskraft des Betrachters. Dass da einer "in Bewegung"
ist, dennoch aber klar als Person erkennbar, trotz verwaschener Unschärfe des
Bildes.
Oder die demgegenüber glasklar ausgelichtete und getroffene Person dieses
älteren, amerikanischen Mannes vor der verfallenden Mauer. Wobei
"glasklar" eben Klarheit und Schärfe nach den Möglichkeiten eines
Polaroid bedeutet, Farbe leicht verwaschen wirkt, die Konturen des Gesichtes
durch die niedere Auflösung der Bilddichte schattig noch klarer hervortreten.
Portrait über Portrait legt sich so vor die Augen des Betrachters, teils auch
in schwarz-weiß, wie jenes von Bryan Adams.
Und immer wieder ist es erstaunlich, am eigenen Betrachten zu erkennen, wie sich
die Sehgewohnheiten verändert haben, wie unscharf selbst ausgelichtete
Polaroids des Weges daherkommen und wie verbunden man sich umgehend damit
fühlt. Wie genau der Blick wird, um Details zu erkennen, die bei der digitalen
Fotografie ohne Mühe ins Auge springen und hier die ein oder andere
Entdeckungsreise ins Foto hinein notwendig machen. Und, auch das besonders an
diesem Bildband, das Weglassen zeigt Wirkung. Weiße Seiten, die gar nicht so
selten (aber nicht durchgehend) den Blick konzentriert auf das dann
"einzige" Bild der jeweiligen Doppelseite wirft.
Fazit
Ein gelungenes, intensives Erlebnis bietet diese Zeitreise, die Wehmut aufkommen
lässt, aber auch das Besondere der analogen Polaroids unmittelbar erfahrbar
gestaltet.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 11. April 2016 2016-04-11 16:20:40