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Ian Kershaw: Das Ende

Das Ende

von Ian Kershaw
Verlag: Deutsche Verlagsanstalt [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Sachbuch
ISBN-13 978-3-421-05807-2

Preis: 5,10 Euro bei Amazon.de [Stand: 21. November 2024]
"Noch nie zuvor ist das apokalyptische Finale des "Dritten Reiches" so aspektreich beschrieben und zugleich tiefschürfend interpretiert worden. Wir verstehen nun tatsächlich besser, warum das Regime funktionieren konnte, bis die Rote Armee buchstäblich vor den Trümmern der Reichskanzlei stand."

Diese Worte aus der "Zeit"-Rezension von Volker Ullrich schmücken den Buchrücken dieses wichtigen Buches. Es hilft uns, zu verstehen, warum das "Dritte Reich" nicht nur bis zum bitteren Ende, bis zur totalen Niederlage kämpfte, sondern warum es auch bis zum Schluss funktionierte. Warum konnte das Regime so lange durchhalten? Der Historiker und Hitler-Biograph Ian Kershaw sieht die entscheidende Antwort dafür in den Strukturen von Hitlers Herrschaft und den ihnen zugrunde liegenden Einstellungen. Dies seien die wichtigsten Gründe für Deutschlands Fähigkeit und Bereitschaft, bis zum absoluten Ende zu kämpfen. Kershaw folgt der Theorie der "charismatischen Herrschaft" des Soziologen Max Weber, die im Jahre 1944 und 1945 zwar in Bezug auf die Massenbegeisterung nachgelassen habe. Gleichwohl seien Strukturen und Mentalitäten dieser Herrschaft bei seinen Anhängern, den Machthabern und den Eliten des "Dritten Reiches" bis zum Ende wirksam gewesen. Es gab im Dritten Reich keine Strukturen einer kollektiven Regierung mehr. Dies ist ein entscheidender Unterschied zum faschistischen Italien, wo es neben dem König, der nominell über dem "Duce" Mussolini stand, noch einen Großen Faschistischen Rat gab, der Mussolini dann auch 1943 absetzte. Solche Strukturen gab es in NS-Deutschland nicht. Hitler war Staatsoberhaupt, Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Regierungs- und Parteichef in einer Person. Konsequent widersetzte er sich allen Vorschlägen eines Verhandlungsfriedens, da ein zweiter "November 1918" nicht mehr vorkommen sollte. Hitler lehnte jeden Gedanken an eine Kapitulation ab und drohte jedem mit dem Tode, der solche Gedanken aussprechen sollte. Wie der Fall Hermann Fegeleins, des Schwagers von Eva Braun zeigte, wurden auch in der kleinen Gruppe im "Führerbunker", diejenigen, die zu fliehen versuchten, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Dies zeigt, dass die Personalisierung der Macht auf Hitler bis in die letzten Tage des "Dritten Reiches" extrem gewesen ist, selbst im Vergleich mit anderen totalitären Regimen Das gescheiterte Attentat vom 20. Juli radikalisierte das Regime und führte zu wachsendem Terror und verstärkter Kontrolle des Offizierskorps, welches nach diesem Zeitpunkt in besonderem Maße einer Nazifizierung ausgesetzt wurde. Die Einführung des Volkssturm im Herbst 1944 führte zudem zur völligen Militarisierung der Gesellschaft. Diese stnad - anders als in früheren Forschungen behauptet - nicht bis zum Ende hinter Hitler und dem NS-Regime. "Das Volk hat kein Vertrauen zur Führung mehr", hieß es in eimem internen Bericht vom März 1945. Zwar hatten sich nach dem Scheitern des Stauffenberg-Attentats die Bindungen an Hitler an der Spitze der Gesellschaft ebenso wie an der Basis für kurze Zeit versträkt. Hitlers sinkende Popularität erlebte kurzfristig nochmals einen Aufschwung. Doch insgesamt hatte Hitlers Beliebtheit seit dem Winter 1941, dem gescheiterten Russland-Feldzug, kontinuierlich abgenommen und befand sich - so Kershaw - 1944/45 in freiem Fall. Seine Popularität in der Bevölkerung habe sich seitdem auf eine kleine Minderheit beschränkt - eine Minderheit freilich, die noch immer die Macht hatte. Generell aber sei Hitlers Rückhalt Anfang 1945 sehr gering gewesen. Den Fanatismus vieler Funktionäre des Regimes erklärt Kershaw mit dem Bewusstsein, dass diese durch die begangenen Verbrechen wussten, dass sie alle Brücken hinter sich abgebrochen und selber keine Zukunft mehr hatten. Partei- und SS-Führer waren an den schlimmsten Greäueltaten gegen Juden und andere beteiligt gewesen. Sie reagierten mit äußerstem Terror, der sich während der Agonie des Regimes verstärkte. Die "Desparado-Aktionen" vieler Parteiaktivisten der letzten Wochen zeigen, dass diejenigen, doe ohne Regime keine Zukunft hatten, nur allzu bereit waren, ihre Feinde mit sich in den Abgrund zu reißen, an alten Gegnern Rache zu üben, persönliche Rechnungen zu begleichen und dafür zu sorgen, dass kein Regimegegner über dessen Untergang trimphieren konnte. Diese Fanatiker waren zwar keine sehr große Gruppe, hatten aber noch Macht über Leben und Tod. Ihr Drang zur Selbstzerstörung war der gleiche wie der Hitlers und anderer Führer des Regimes. Mit ihrer Brutalität trugen sie dazu bei, dass die Macht der Nationalsozialisten erhalten blieb und Widerstandsäußerungen von unten bereits im Keim erstickt wurden. Zu Beginn seines Buches zeigt Kershaw diesen Aspekt an einem furchtbaren Beispiel auf: er beschreibt die Hinrichtung eines 19-jährigen Theologiestudenten im bayerischen Ansbach. Dieser hatte dafür plädiert, die Stadt mit ihren immer noch unversehrten malerischen Barock- und Rokokobauten kampflos zu übergeben. Er wurde auf Befehl des Kampfkommandanten der Stadt Stunden vor dem Einmarsch der Amerikaner hingerichtet. "Keiner aus der Menschenmenge, die sich versammelt hat, rührt einen Finger, um ihm zu helfen. Von einigen wird er vielmehr ebenfalls geschlagen und getreten." Wie diese grausige Episode zeigt, funktionierte das NS-Regime mit seiner terroristischen Repression bis zum bitteren Ende. Der Terror richtete sich nun gegen die gesamte Bevölkerung, nicht nur gegen verfolgte Minderheiten. Wie der Roman von Ralf Rothmann, der in diesem "Bücherpunsch" besprochen ist, eindringlich gezeigt hat, stieg unter einfachen Soldaten die Zahl der Fahnenflüchtigen und "Versprengten" stark an. Die Mitte Februar 1945 eingerichteten Standgerichte erkannten ausschließlich auf Todesstrafe, und als Anfang März die mobilen oder "fliegenden" Standgerichte eingeführt wurden, konnten sie in jedem Frontgebiet auftauchen und innerhalb von Minuten gegen vermeintliche Drückeberger, Defätisten oder Subversive Todesurteile verhängen und die Exekution bewirken.
Doch die oben geschilderte Episode zeigt auch, dass der Terror des Regimes nicht alles erklärte - denn es gab für die Hinrichtung durchaus Unterstützung in der Öffentlichkeit, bei der das Regime noch populär war. Kershaw zeigt weitere Faktoren auf, die dazu führten, dass das "Dritte Reich" bis zum Ende "funktionierte": neben der bei einer Minderheit noch vorhandenen Popularität Hitlers, dem brutalen Terror seien dies die nach dem Attentat des 20. Juli 1944 gestärkte Vorherrschaft der Partei gewesen. Diese - wie auch die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft, die für den "totalen Krieg" vorbereitet wurde - wurde durch ein Quadrumvirat durchgeführt, zu dem Martin Bormann, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler und Albert Speer gehörten. Hinzu kam der Faktor der sogenannten "negativen Integration", bewirkt durch die Angst vor einer Bolschewisierung des Landes. Zuletzt spielten - wie die Episode aus Ansbach eindrücklich zeigt - Mentalitäten der Bevölkerung, Untertanengeist und die Bereitschaft, Pflichten auch dann noch zu erfüllen, wenn offenbar alles verloren war, eine wichtige Rolle für das Funktionieren des Regimes. Letztlich blieben Strukturen und Mentalitäten von Hitlers charismatischer Herrschaft bis zu seinem Tode im Führerbunker wirksam. "So uneins wie die herrschenden Eliten waren, besaßen sie weder den gemeinsamen Willen, noch verfügten sie über die Mechanismen der Macht, um Hitler daran zu hindern, Deutschland ins Verderben zu stürzen. Das war das Entscheidende."

Wie die einleitenden Worte Volker Ullrichs verdeutlichen, ist dieses Buch, welches mittlerweile zu einem Standardwerk geworden ist, sehr hilfreich, um zu verstehen, warum das Dritte Reich bis zu seinem Ende funktonierte. Dennoch sollte man - und dies tut Kershaw meines Erachtens nicht in ausreichendem Maße - den Unterschied zwischen totalitären und autoritären Regimen einerseits und den Unterschied zwischen "bodenständigen" Regimen und "Quislingregimen", also Diktaturen, die unter dem Druck einer fremden Großmacht geschaffen wurden, in die Betrachtungen mit einbeziehen. Wie Wolfgang Merkel gezeigt hat, ist der zweite Faktor entscheidend gewesen für den Untergang der Satellitenstaaten des Ostblockes. Doch schon zuvor, 1983, hatte Richard Löwenthal in einem Beitrag: "Deutsche Opposition gegen das NS-Regime" in: Nationalsozialistische Diktatur: 1933-1945: eine Bilanz" (Droste-Verlag, 1983) festgestellt: "Der eine für den Widerstand relevante Unterschied besteht zwischen den modernen Einparteiensystemen einerseits, den autoritären Regimen, die sich primär auf militärische Gewalt und zum Teil auch noch auf monarchistische Traditionen stützen, andererseits. Diese autoritären Regime sehen das Bestehen einer Vielfalt organisierter gesellschaftlicher Kräfte durchaus als normal an und tolerieren teilweise sogar eine begrenzte Auswahl von Parteien - nur versuchen sie, jeden wirksamen demokratischen Einfluß dieser Kräfte auf den politischen Entscheidungsprozess zu verhindern. (...) Im Gegensatz dazu stützen die modernen Parteidiktaturen sich selbst auf eine politische Massenbewegung. (...) Sie suchen das Herrschaftsmonopol der staatstragenden Partei nicht nur durch das Verbot aller anderen Parteien, sondern auch durch die Gleichschaltung aller gesellschaftlichen Organisationen und die Ausrichtung aller Informationsmittel unter Kontrolle dieser Partei zu sichern: Parteimonopol, Organisationsmonmopol und Informationsmonopol sind die drei institutionellen Merkmale, die zusammen den neuen Typ des totalen oder...totalitären Staates definieren. Zugleich sind diese Parteidiktaturen gesellschaftlich und ideologisch nicht etwa konservativ, sondern Träger dynamischer Veränderungen der Gesellschaftsstruktur, deren Mittel oft die pysische Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen einschließen, und Befürworter eines Bruchs mit wichtigen kulturellen Traditionen. Es versteht sich, daß Widerstand gegen eine totalitäre Parteidiktatur, die sich im Ursprung auf eine Massenbewegung stützt und mit Hilfe von deren Kadern alls Sphären des gesellschaftlichen und geistigen Lebens organisatorisch und ideologisch zu durchdringen sucht, normalerweise weit engere Grenzen hat und ganz andere Formen annehmen muß als Widerstand gegen eine autoritäre Diktatur, die grundsätzlich weite Bereiche des gesellschaftlichen Eigenlebens duldet und ihre Macht wesentlich mit militärischen, polizeilichen und allgemien bürokratischen Mitteln zu behaupten sucht.
Ein zweiter, für die Möglichkeiten und Formen des Widerstandes nicht minder wichtiger Unterschied ist der zwischen einer im nationalen Sinne "bodenständigen" und einer unter dem Druck einer fremden Großmacht geschaffenen und von dieser abhängigen Diktatur. "Quislingregime" oder "Satellitenregime" verfügen, auch wenn sie die Formen der Parteiherrschaft ihres Vorbildstaates gewissenhaft nachahmen, nicht über die gleiche Massenbaiss in ihrer Entstehungszeit und daher nicht über die gleiche Fülle verläßlicher, freiwilliger Helfer ihrer Unterdrückungsmaßnahmen, wie Diktaturen, die aus einer unabhängigen, einheimischen Machtergreifung hervorgegangen sind. Auch da, wo solche fremdbestimmten Diktaturen nicht als Produkte eines noch fortdauernden Krieges gegen lebendeige Befreiungshoffnungen anzukämpfen haben, sondern sich mit Zeitablauf konsolidieren und sogar eine gewisse Autonomie von ihrer "Schutzmacht" erlangen, werden sie niemals von einer Mehrheit der Bevölkerung als Ausdruck des eigenen Willens empfunden, sondern im besten Falle "realpolitisch" akzeptiert. Nur eine "hausgemachte" Parteidiktatur kann sich der Idee des "totalen Staates" in der Wirklichkeit annähern." (Richard Löwenthal: "Deutsche Opposition gegen das NS-Regime" in: "Nationalsozialistische Diktatur. - Düsseldorf, Droste-Verl., 1983, S. 619/20).
Der Untergang der kommunistischen Regime des früheren Ostblockes zeigt die Wichtigkeit der Betrachtungen Richard Löwenthals. Seine Darlegungen erklären auch, warum das "Dritte Reich" bis zum bitteren Ende "funktionierte": es war gleichzeitig eine totalitäre wie auch eine "hausgemachte" Parteidiktatur. Die Überlegungen Kershaws, der in den fehlenden kollektiven Strukturen des "Dritten Reiches" sowie in Hitlers "charismatischer Herrschaft" die beiden wichtigsten Faktoren für das Überleben des Regimes bis zum Schluss sieht, sind sicherlich nicht falsch. Aber die Überlegungen Löwenthals sind ebenfalls wichtige Ursachen für die "Stabilität" des nationalsozialistischen Führerstaates.
Fazit
Beide Werke - das Buch von Kershaw und der Aufsatz von Löwenthal - tragen grundlegend zum Verständnis der Frage bei, warum der Krieg nicht früher durch einen Verhandlungsfrieden beendet werden konnte und haben meines Erachtens die Forschung in bahnbrechender Weise vorangebracht.
8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne
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Vorgeschlagen von Bernhard Nowak [Profil]
veröffentlicht am 10. Juli 2015

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