"Noch nie zuvor ist das apokalyptische Finale des "Dritten
Reiches" so aspektreich beschrieben und zugleich tiefschürfend
interpretiert worden. Wir verstehen nun tatsächlich besser, warum das Regime
funktionieren konnte, bis die Rote Armee buchstäblich vor den Trümmern der
Reichskanzlei stand."
Diese Worte aus der "Zeit"-Rezension von Volker Ullrich schmücken den
Buchrücken dieses wichtigen Buches. Es hilft uns, zu verstehen, warum das
"Dritte Reich" nicht nur bis zum bitteren Ende, bis zur totalen
Niederlage kämpfte, sondern warum es auch bis zum Schluss funktionierte. Warum
konnte das Regime so lange durchhalten? Der Historiker und Hitler-Biograph Ian
Kershaw sieht die entscheidende Antwort dafür in den Strukturen von Hitlers
Herrschaft und den ihnen zugrunde liegenden Einstellungen. Dies seien die
wichtigsten Gründe für Deutschlands Fähigkeit und Bereitschaft, bis zum
absoluten Ende zu kämpfen. Kershaw folgt der Theorie der "charismatischen
Herrschaft" des Soziologen Max Weber, die im Jahre 1944 und 1945 zwar in
Bezug auf die Massenbegeisterung nachgelassen habe. Gleichwohl seien Strukturen
und Mentalitäten dieser Herrschaft bei seinen Anhängern, den Machthabern und
den Eliten des "Dritten Reiches" bis zum Ende wirksam gewesen. Es gab
im Dritten Reich keine Strukturen einer kollektiven Regierung mehr. Dies ist ein
entscheidender Unterschied zum faschistischen Italien, wo es neben dem König,
der nominell über dem "Duce" Mussolini stand, noch einen Großen
Faschistischen Rat gab, der Mussolini dann auch 1943 absetzte. Solche Strukturen
gab es in NS-Deutschland nicht. Hitler war Staatsoberhaupt, Oberbefehlshaber der
Streitkräfte, Regierungs- und Parteichef in einer Person. Konsequent
widersetzte er sich allen Vorschlägen eines Verhandlungsfriedens, da ein
zweiter "November 1918" nicht mehr vorkommen sollte. Hitler lehnte
jeden Gedanken an eine Kapitulation ab und drohte jedem mit dem Tode, der solche
Gedanken aussprechen sollte. Wie der Fall Hermann Fegeleins, des Schwagers von
Eva Braun zeigte, wurden auch in der kleinen Gruppe im
"Führerbunker", diejenigen, die zu fliehen versuchten, zum Tode
verurteilt und hingerichtet. Dies zeigt, dass die Personalisierung der Macht auf
Hitler bis in die letzten Tage des "Dritten Reiches" extrem gewesen
ist, selbst im Vergleich mit anderen totalitären Regimen Das gescheiterte
Attentat vom 20. Juli radikalisierte das Regime und führte zu wachsendem Terror
und verstärkter Kontrolle des Offizierskorps, welches nach diesem Zeitpunkt in
besonderem Maße einer Nazifizierung ausgesetzt wurde. Die Einführung des
Volkssturm im Herbst 1944 führte zudem zur völligen Militarisierung der
Gesellschaft. Diese stnad - anders als in früheren Forschungen behauptet -
nicht bis zum Ende hinter Hitler und dem NS-Regime. "Das Volk hat kein
Vertrauen zur Führung mehr", hieß es in eimem internen Bericht vom März
1945. Zwar hatten sich nach dem Scheitern des Stauffenberg-Attentats die
Bindungen an Hitler an der Spitze der Gesellschaft ebenso wie an der Basis für
kurze Zeit versträkt. Hitlers sinkende Popularität erlebte kurzfristig
nochmals einen Aufschwung. Doch insgesamt hatte Hitlers Beliebtheit seit dem
Winter 1941, dem gescheiterten Russland-Feldzug, kontinuierlich abgenommen und
befand sich - so Kershaw - 1944/45 in freiem Fall. Seine Popularität in der
Bevölkerung habe sich seitdem auf eine kleine Minderheit beschränkt - eine
Minderheit freilich, die noch immer die Macht hatte. Generell aber sei Hitlers
Rückhalt Anfang 1945 sehr gering gewesen. Den Fanatismus vieler Funktionäre
des Regimes erklärt Kershaw mit dem Bewusstsein, dass diese durch die
begangenen Verbrechen wussten, dass sie alle Brücken hinter sich abgebrochen
und selber keine Zukunft mehr hatten. Partei- und SS-Führer waren an den
schlimmsten Greäueltaten gegen Juden und andere beteiligt gewesen. Sie
reagierten mit äußerstem Terror, der sich während der Agonie des Regimes
verstärkte. Die "Desparado-Aktionen" vieler Parteiaktivisten der
letzten Wochen zeigen, dass diejenigen, doe ohne Regime keine Zukunft hatten,
nur allzu bereit waren, ihre Feinde mit sich in den Abgrund zu reißen, an alten
Gegnern Rache zu üben, persönliche Rechnungen zu begleichen und dafür zu
sorgen, dass kein Regimegegner über dessen Untergang trimphieren konnte. Diese
Fanatiker waren zwar keine sehr große Gruppe, hatten aber noch Macht über
Leben und Tod. Ihr Drang zur Selbstzerstörung war der gleiche wie der Hitlers
und anderer Führer des Regimes. Mit ihrer Brutalität trugen sie dazu bei, dass
die Macht der Nationalsozialisten erhalten blieb und Widerstandsäußerungen von
unten bereits im Keim erstickt wurden. Zu Beginn seines Buches zeigt Kershaw
diesen Aspekt an einem furchtbaren Beispiel auf: er beschreibt die Hinrichtung
eines 19-jährigen Theologiestudenten im bayerischen Ansbach. Dieser hatte
dafür plädiert, die Stadt mit ihren immer noch unversehrten malerischen
Barock- und Rokokobauten kampflos zu übergeben. Er wurde auf Befehl des
Kampfkommandanten der Stadt Stunden vor dem Einmarsch der Amerikaner
hingerichtet. "Keiner aus der Menschenmenge, die sich versammelt hat,
rührt einen Finger, um ihm zu helfen. Von einigen wird er vielmehr ebenfalls
geschlagen und getreten." Wie diese grausige Episode zeigt, funktionierte
das NS-Regime mit seiner terroristischen Repression bis zum bitteren Ende. Der
Terror richtete sich nun gegen die gesamte Bevölkerung, nicht nur gegen
verfolgte Minderheiten. Wie der Roman von Ralf Rothmann, der in diesem
"Bücherpunsch" besprochen ist, eindringlich gezeigt hat, stieg unter
einfachen Soldaten die Zahl der Fahnenflüchtigen und "Versprengten"
stark an. Die Mitte Februar 1945 eingerichteten Standgerichte erkannten
ausschließlich auf Todesstrafe, und als Anfang März die mobilen oder
"fliegenden" Standgerichte eingeführt wurden, konnten sie in jedem
Frontgebiet auftauchen und innerhalb von Minuten gegen vermeintliche
Drückeberger, Defätisten oder Subversive Todesurteile verhängen und die
Exekution bewirken.
Doch die oben geschilderte Episode zeigt auch, dass der Terror des Regimes nicht
alles erklärte - denn es gab für die Hinrichtung durchaus Unterstützung in
der Öffentlichkeit, bei der das Regime noch populär war. Kershaw zeigt weitere
Faktoren auf, die dazu führten, dass das "Dritte Reich" bis zum Ende
"funktionierte": neben der bei einer Minderheit noch vorhandenen
Popularität Hitlers, dem brutalen Terror seien dies die nach dem Attentat des
20. Juli 1944 gestärkte Vorherrschaft der Partei gewesen. Diese - wie auch die
zunehmende Militarisierung der Gesellschaft, die für den "totalen
Krieg" vorbereitet wurde - wurde durch ein Quadrumvirat durchgeführt, zu
dem Martin Bormann, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler und Albert Speer
gehörten. Hinzu kam der Faktor der sogenannten "negativen
Integration", bewirkt durch die Angst vor einer Bolschewisierung des
Landes. Zuletzt spielten - wie die Episode aus Ansbach eindrücklich zeigt -
Mentalitäten der Bevölkerung, Untertanengeist und die Bereitschaft, Pflichten
auch dann noch zu erfüllen, wenn offenbar alles verloren war, eine wichtige
Rolle für das Funktionieren des Regimes. Letztlich blieben Strukturen und
Mentalitäten von Hitlers charismatischer Herrschaft bis zu seinem Tode im
Führerbunker wirksam. "So uneins wie die herrschenden Eliten waren,
besaßen sie weder den gemeinsamen Willen, noch verfügten sie über die
Mechanismen der Macht, um Hitler daran zu hindern, Deutschland ins Verderben zu
stürzen. Das war das Entscheidende."
Wie die einleitenden Worte Volker Ullrichs verdeutlichen, ist dieses Buch,
welches mittlerweile zu einem Standardwerk geworden ist, sehr hilfreich, um zu
verstehen, warum das Dritte Reich bis zu seinem Ende funktonierte. Dennoch
sollte man - und dies tut Kershaw meines Erachtens nicht in ausreichendem Maße
- den Unterschied zwischen totalitären und autoritären Regimen einerseits und
den Unterschied zwischen "bodenständigen" Regimen und
"Quislingregimen", also Diktaturen, die unter dem Druck einer fremden
Großmacht geschaffen wurden, in die Betrachtungen mit einbeziehen. Wie Wolfgang
Merkel gezeigt hat, ist der zweite Faktor entscheidend gewesen für den
Untergang der Satellitenstaaten des Ostblockes. Doch schon zuvor, 1983, hatte
Richard Löwenthal in einem Beitrag: "Deutsche Opposition gegen das
NS-Regime" in: Nationalsozialistische Diktatur: 1933-1945: eine
Bilanz" (Droste-Verlag, 1983) festgestellt: "Der eine für den
Widerstand relevante Unterschied besteht zwischen den modernen
Einparteiensystemen einerseits, den autoritären Regimen, die sich primär auf
militärische Gewalt und zum Teil auch noch auf monarchistische Traditionen
stützen, andererseits. Diese autoritären Regime sehen das Bestehen einer
Vielfalt organisierter gesellschaftlicher Kräfte durchaus als normal an und
tolerieren teilweise sogar eine begrenzte Auswahl von Parteien - nur versuchen
sie, jeden wirksamen demokratischen Einfluß dieser Kräfte auf den politischen
Entscheidungsprozess zu verhindern. (...) Im Gegensatz dazu stützen die
modernen Parteidiktaturen sich selbst auf eine politische Massenbewegung. (...)
Sie suchen das Herrschaftsmonopol der staatstragenden Partei nicht nur durch das
Verbot aller anderen Parteien, sondern auch durch die Gleichschaltung aller
gesellschaftlichen Organisationen und die Ausrichtung aller Informationsmittel
unter Kontrolle dieser Partei zu sichern: Parteimonopol, Organisationsmonmopol
und Informationsmonopol sind die drei institutionellen Merkmale, die zusammen
den neuen Typ des totalen oder...totalitären Staates definieren. Zugleich sind
diese Parteidiktaturen gesellschaftlich und ideologisch nicht etwa konservativ,
sondern Träger dynamischer Veränderungen der Gesellschaftsstruktur, deren
Mittel oft die pysische Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen einschließen,
und Befürworter eines Bruchs mit wichtigen kulturellen Traditionen. Es versteht
sich, daß Widerstand gegen eine totalitäre Parteidiktatur, die sich im
Ursprung auf eine Massenbewegung stützt und mit Hilfe von deren Kadern alls
Sphären des gesellschaftlichen und geistigen Lebens organisatorisch und
ideologisch zu durchdringen sucht, normalerweise weit engere Grenzen hat und
ganz andere Formen annehmen muß als Widerstand gegen eine autoritäre Diktatur,
die grundsätzlich weite Bereiche des gesellschaftlichen Eigenlebens duldet und
ihre Macht wesentlich mit militärischen, polizeilichen und allgemien
bürokratischen Mitteln zu behaupten sucht.
Ein zweiter, für die Möglichkeiten und Formen des Widerstandes nicht minder
wichtiger Unterschied ist der zwischen einer im nationalen Sinne
"bodenständigen" und einer unter dem Druck einer fremden Großmacht
geschaffenen und von dieser abhängigen Diktatur. "Quislingregime"
oder "Satellitenregime" verfügen, auch wenn sie die Formen der
Parteiherrschaft ihres Vorbildstaates gewissenhaft nachahmen, nicht über die
gleiche Massenbaiss in ihrer Entstehungszeit und daher nicht über die gleiche
Fülle verläßlicher, freiwilliger Helfer ihrer Unterdrückungsmaßnahmen, wie
Diktaturen, die aus einer unabhängigen, einheimischen Machtergreifung
hervorgegangen sind. Auch da, wo solche fremdbestimmten Diktaturen nicht als
Produkte eines noch fortdauernden Krieges gegen lebendeige Befreiungshoffnungen
anzukämpfen haben, sondern sich mit Zeitablauf konsolidieren und sogar eine
gewisse Autonomie von ihrer "Schutzmacht" erlangen, werden sie niemals
von einer Mehrheit der Bevölkerung als Ausdruck des eigenen Willens empfunden,
sondern im besten Falle "realpolitisch" akzeptiert. Nur eine
"hausgemachte" Parteidiktatur kann sich der Idee des "totalen
Staates" in der Wirklichkeit annähern." (Richard Löwenthal:
"Deutsche Opposition gegen das NS-Regime" in:
"Nationalsozialistische Diktatur. - Düsseldorf, Droste-Verl., 1983, S.
619/20).
Der Untergang der kommunistischen Regime des früheren Ostblockes zeigt die
Wichtigkeit der Betrachtungen Richard Löwenthals. Seine Darlegungen erklären
auch, warum das "Dritte Reich" bis zum bitteren Ende
"funktionierte": es war gleichzeitig eine totalitäre wie auch eine
"hausgemachte" Parteidiktatur. Die Überlegungen Kershaws, der in den
fehlenden kollektiven Strukturen des "Dritten Reiches" sowie in
Hitlers "charismatischer Herrschaft" die beiden wichtigsten Faktoren
für das Überleben des Regimes bis zum Schluss sieht, sind sicherlich nicht
falsch. Aber die Überlegungen Löwenthals sind ebenfalls wichtige Ursachen für
die "Stabilität" des nationalsozialistischen Führerstaates.
Fazit
Beide Werke - das Buch von Kershaw und der Aufsatz von Löwenthal - tragen
grundlegend zum Verständnis der Frage bei, warum der Krieg nicht früher durch
einen Verhandlungsfrieden beendet werden konnte und haben meines Erachtens die
Forschung in bahnbrechender Weise vorangebracht.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 10. Juli 2015 2015-07-10 18:42:53