Zeitenwende und neue Formen der Philosophie
"Verachte deiner Zeit geliebte Freuden. Mit kalter Lippe strafe ihre Ziele
und ihres Pöbels feile Leiden. Sei stolz, daß niemand gleiches mit dir fühle!
Und sondere deinen Sinn und deine Taten - Vergessenheit sei um dein Ende, auf
dass dein Leben dir allein geraten, der Ruhm aus aller Mund nicht deine Tage
schände." (Oswald Spengler, Zitiert aus: Anton Koktanek: Spengler in
seiner Zeit, 1968, S. XXVIV.)
Diese tiefgründigen Worte können nur aus der Feder eines sein Prinzip lebenden
Philosophen stammen, der nicht unbedingt inneruniversitärer weil für das
praktische Leben folgenlos bleibender Scheinphilosophie anhängt. Der
wissenschaftsgläubige Reduktionismus derselben verhindert heute oftmals das
Reifen autonomer Persönlichkeiten in verantwortungsbewußten Gemeinschaften,
die nur als solche selbständig denkend und zugleich Gerechtigkeit und Freiheit
zu erzielen in der Lage sind. Propaganda, Lärm - alles appelliert heute weniger
an das kritische Urteilsvermögen, als vielmehr an die Affekte und die
konditionierten oder manipulierten pawlowschen Reflexe im Menschen. Politik ist
vor diesem Hintergrund nunmehr lediglich "Ordnungselement (...) innerhalb
dessen der Mensch sich seiner Vervollkommnung widmen solle." (Kurt Lenk:
Wie demokratisch ist der Parlamentarismus, 1972, S. 64) Das aber führt zu einer
Entrealisierung, zu politischer Apathie und zu passivem Konformismus aus Mangel
an klar artikulierten und artikulierbaren politischen Alternativen sowie zu
außengeleiteten, nicht selbst durchdachten Verhaltensmustern.
Was Spengler noch als Erstarrung und Versteinerung zu kennzeichnen pflegte hat
sich als eminent nahe liegend für die Gegenwart erwiesen. Der Philosoph Artur
Schopenhauer (1788-1860) war überzeugt, daß diese Menschen das eigene Denken
vollends durch das äußere Sehen ersetzt haben. Es sind offenbar die
gegenwärtigen das Denken der Menschen beeinflussenden sekundären
Wirklichkeiten, welche als Ursache erwähnter Tendenzen auszumachen sind. Der
Politologe Erich Voegelin (1901-1985) bezeichnete sie als ideologische
Verzerrungen, die vor allem dadurch entstünden, daß sich der Mensch dem
göttlichen Grund, der Transzendenz seiner Existenz, seiner eigenen und von
außen unangefochtenen Wahrnehmungsweise verschloß. Auch Jacob Talmon
(1916-1980) betont diese Dialektik des Verlusts eigener, gleichsam
philosophischer Gewißheit, was in der totalitären Demokratie, der Begrenzung
politisch kontroverser Kommunikation gipfeln könne. (Vgl. Hornung 2000:
Politischer Messianismus: Jacob Talmon und die Genesis der totalitären
Diktaturen, in: Zeitschrift für Politik, Heft 2, Juni 2000, S. 132-172.)
Jene Formen des inneren Niedergangs der Demokratie sind längst ausgemacht und
werden dahingehend erkennbar, daß das, was stets als die starke Mitte gefeiert
wurde, dahinschmilzt. Die Volksparteien verlieren an Bedeutung. An ihre Stelle
drängt ein apathisches Potential von Nichtwählern (30%) sowie von
Protestwählern (10%-15%). Die Hälfte der Bevölkerung ist im Begriff, aus dem
politischen System auszusteigen. Es sind diese Umstände von jeher solche, die
eine Zeit der Philosophen einleiten, eine Zeit des gründlichen Nachdenkens und
Veränderns hin zu solchen Neuerungen, die dem Menschen und nicht einer medial
infiltrierten Gestalt von "Mensch" als solchem Rechnung tragen.
Diesen Prozeß kann unverändert nur die Philosophie einleiten, welche sich im
Verlauf von 2500 Jahren zu einem monumentalen Gedankengebäude, zu einem
beeindruckenden Gedankenpalast entwickelt hat. Große Philosophen übten eine
große Ausstrahlung auf das geistige und damit politische Geschehen in der
Weltgeschichte aus. Dabei standen deutsche und andere kontinentaleuropäische
philosophischen Auffassungen oft quer zu angelsächsischen Überzeugungen. Nach
dem Zweiten Weltkrieg bestätigte sich daher die alte geschichtliche Erfahrung,
daß Sieger nicht nur ihre militärische, wirtschaftliche und finanzielle Macht
ausüben, sondern den Besiegten gerade auch auf kulturellem Gebiet ihren Stempel
aufdrückten. Mit Thomas Hobbes gesprochen: Auctoritas non veritas facit legem -
Die situativ dominierende Macht und nicht die ewigwährende Wahrheit spricht das
"Recht". Das hatte seit 1945 die Verdrängung deutscher und insgesamt
großer Philosophietraditionen zur Folge.
Das vorliegende Buch von Werner Kunze erscheint deshalb zur richtigen Zeit. Er
nimmt zu allen soeben benannten Aspekten klar Stellung und steigt direkt -
seinen eigenen Anspruch im Auftrage der Philosophie verkündend - ins Thema ein:
"Die erhabene Philosophie ist und bleibt unerläßlich, um uns vom Getöse
der Welt zu lösen, von den uns umgarndenden Manipulationen und der Übermacht
des Unwichtigen und Kleinen." (11)
Damit zeigt er sogleich, daß Philosophie ein Nachdenken ist, über das
Unmittelbare und scheinbar Selbstverständliche hinaus. Kunze versäumt nicht,
gerade die Leistung der Deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts zu
verdeutlichen, denn die Deutschen verfolgen seit jeher den Anspruch, den
"Alles-Gedanken", das Komplette zu erwägen, um nicht auf Seiten
verödeter Dogmatik zu verharren. Für diesen Anspruch und seinen erhabenen
Gestus wurden sie gehaßt, verloren im Kampf um geistige Selbstrechtfertigung
zwei Kriege und wurden "freiheitlich" gezwungen, ihr geistiges Erbe
preiszugeben. Aber das kleine grüne Bäumchen wächst wieder. Die ersten Triebe
zeitigen ihre Wirkung. Auch Kunze schreibt dazu in seinem Werk gerade über die
philosophieverneinenden Auswirkungen der Nachkriegszeit: "Wenn man sich vor
Augen führt, daß diese bis heute geltenden Grundlagen aus einer Mischung von
zeitbezogenem Deutschenhaß, Umerziehungsfanatismus, marxistischer
Gleichmacherei, falsch oder einseitig interpretiertem Freud, einem geradezu
pathologischen Vernichtungswillen gegenüber jeder Art von Tradition bestanden,
wird deutlich, daß neue Ideen, die heutigen Problemen Rechnung tragen, dringend
erforderlich sind." (36) Wie es aussieht, besteht daher heute erneut
dringender Bedarf, uns wieder Rat bei großen Philosophen einzuholen. Das
Aufkommen tatsächlich neuen philosophischen Denkens in Deutschland bestätigt
diesen Sachverhalt. Erwähnt sei hier lediglich der Sozialphilosoph Johannes
Heinrichs (geb. 1942) aus Duisburg.
Wer sich also mit Kunze ernsthaft auf Philosophie einläßt, begibt sich auf ein
anfänglich ungeahntes geistiges Abenteuer, Suchtgefahren eingeschlossen.
Viele Menschen werden es wohl kaum glauben, daß die Lektüre philosophischer
Bücher nach dieser Eingewöhnungsarbeit mindestens so spannend, aber
befriedigender ist als die raffiniert und intelligent geschriebener
Kriminalromane oder des Fernsehens. Kunze benennt deshalb zwei Eigenschaften,
die ein fürs Philosophieren geeigneter Mensch besitze solle:
"Wer sich mit Philosophie befaßt, muß vor allen Dingen zwei
Voraussetzungen mitbringen: zum einen nichts vorschnell als selbstverständlich
oder einleuchtend anzusehen, also sich das Staunen zu bewahren. (...) Zur
zweiten Vorrausetzung gehört die Fähigkeit, abstrakt zu denken, d.h. vom
Einzelnen zum Allgemeinen fortzuschreiten." (26) Von Anfang an hat sich
also die Philosophie indes größere Aufgaben gestellt als die eines
Seelentrösters oder einer Parteidogmatik. Sie sah ihren Auftrag nicht nur
darin, den Menschen zur Erbauung und zur Verkündung wohlfeiler Lebensweisheiten
nützlich zu sein, sondern die Großen unter den Philosophen wollten stets zur
Welterkenntnis, zur Lösung der Rätsel Mensch und Kosmos beitragen: Lebens- und
Weltdeutung also mit dem universellen und einmaligen Instrumentarium des
menschlichen Verstandes.
Die Philosophie ist mit Platon die alles umfassende Urwissenschaft, verdeutlicht
in der nur durch sie aufgeworfenen Frage: "Warum ist überhaupt
etwas?" Zu Recht, ohne die Klärung jener Frage, macht selbst die
Naturwissenschaft keinen Sinn.
Kunze durchschreitet vor diesem Hintergrund in seinem Buch alle wesentlichen
Epochen der Philosophiegeschichte, weist in ihnen aktuelle Bezugspunkt auf,
setzt aber zugleich eigene Schwerpunkte, z.B. die Bedeutung der spezifisch
Deutschen Philosophie, des spezifisch Deutschen im Denken der Menschen. Dies
läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Anspruch auf Praxisrelevanz des
Denkens, grundlegender Skeptizismus gegenüber oberflächlichen Ideologien,
Ausgehen vom Ganzen her, "Selbstreflexion, Selbstbezug-im-Fremdbezug"
(Johannes Heinrichs) und engagierte Desintegration. So verwundert es auch nicht,
daß der Verfasser in seinen gut leserlichen Ausführungen Jürgen Habermas
ausspart, war dieser doch in Permanenz Vertreter eines krampfhaften und die
Kultur des spezifisch Deutschen verneinenden Denkens, das damit gleichsam nach
philosophischen Maßstäben den Anspruch, auch "Denken" genannt zu
werden, preisgegeben haben müßte.
Kunze gelingt es mit zahlreichen andersartigen Beispielen im vorliegenden Buch,
die praktische Bewandtnis des philosophischen Denkens für die Gegenwart aber
auch von der Vergangenheit her darzustellen, um damit dem philosophischen
"Gefühl für den tiefen Ethos, die leidenschaftliche Suche nach
Wahrheit" in Gänze Rechnung zu tragen.
Warum allerdings bei der heutigen Veroberflächlichung menschlichen, politischen
und alltäglichen Bewußtseins weder das Denken von Platon bis Kant wenig
praxisrelevante Handlungsperspektiven aufzuzeigen vermag, ist gerade Folge einer
Denkfaulheit, die seit vielen Jahren in inneruniversitären Philologie-Diskursen
verharrt und damit genauso folgenlos bleibt wie bisher. Das ist deshalb brisant,
weil die Widrigkeiten menschlichen Daseins, die Angst und die Unzufriedenheit im
Menschen heute zunehmen. Statt Ursachen zu ermitteln, ergeht der
wohlstandsgezähmte und das Schild "Auschwitz" demütig vor sich
hertragende Durchschnitts-Bundesdeutsche sich in Mitgefühl, im medialen
Voyeurismus. Empörung, Erschrecken, Gefühl und Trauer werden als sekundäre
Wirklichkeiten mediiert und der Zuschauer erfährt so von dem Elend, dem er zum
Glück entronnen ist, um dann Geld zu spenden und anschließend die
Ungerechtigkeit, die eigene Schuld zu hegen und zeitweise zu vergessen, um bis
zum nächsten Mal den Skandal des eigenen Wohlstands zu betäuben und sich den
Affären und Fehden des Familienlebens und der Nachbarschaft zuzuwenden.
Was leidet, ist die originäre staatsbürgerliche, reflektierende - die
klassisch deutsche - Denkart. Die im Endeffekt für ein oberflächliches
Menschenbewußtsein zweckmäßige und vordringende primäre Nähe zum Elend
anderer hingegen hat bereits Arnold Gehlen in seinem Werk "Moral und
Hypermoral" (1969) konstatiert und als von den Konformisten der Negation
getragenen Moralismus auf die griechische Verfallszeit zurückgehend terminiert.
(Vgl. Arnold Gehlen: Moral und Hypermoral, 1969, S. 88-93.)
Der Philosoph der Gegenwart weiß wie seine alten Leidensgenossen aber seit
jeher, daß es damit und von dem frontalen Aufeinanderprallen der Parteien
ebensowenig Strukturelles zu erhoffen gibt, wie von einer Demokratie, die
infolge des liberalen Parlamentarismus vollständig repräsentativ geworden ist
und lediglich eine an sekundären Werten orientierte apathisch-passive Masse
verwaltet, die sie selbst finanziell pazifiziert und reproduziert. Demokratien
nämlich sind für den Philosophen als Palingenesie zu verstehen, als sich
notwendig optimierender Wiederanfang in Permanenz. Dieser sich optimierende
Entwicklungscharakter ist ihnen immanent und sollte sich immer wieder neue Ziele
setzten. Der Autor des vorliegenden Buches hat sich folgende Ziele gesetzt: Er
möchte "Hinweise auf die bedeutenden praktischen Folgen philosophischen
Denkens für die Gestaltung von Staat, Politik und Gesellschaft" geben, um
"schließlich die Folgen für unsere Zeit zu skizzieren, die sich aus dem
erzwungenen Verzicht auf Metaphysik und aus dem Mobbing gegenüber der
Philosophie bereits jetzt und in Zukunft verstärkt ergeben." (407) Kunzes
Buch will deshalb eine Zeitenwende einleiten, die den Blick gerade auf die
Philosophie fallen läßt. Zeitenwende kann hier als das gelten, was der
politische Philosoph Edgar J. Jung zu ihr schrieb: "Jede Zeitenwende wird
von Krisenerscheinungen begleitet: alte Formen zerfallen, neue wollen
werden." (Edgar J. Jung: Die deutsche Staatskrise als Ausdruck der
abendländischen Kulturkrise, in: Sinndeutung der deutschen Revolution und
andere Schriften, Leipzig, 2007, S. 148)
Nach vollendeter Lektüre erkennt der Leser, daß seinem Autor dies gelungen
ist, daß Kunze mit seinem Buch in einer krisengeprägten Zeit neue Formen des
Denkens über die neuerliche Relevanz von Philosophie benannt hat. Da aber nach
seiner Meinung "das Buch der Geschichte, auch das der Philosophie (...)
noch längst nicht vollgeschrieben" (14) ist, dient das vorliegende Buch
zwar zur optimalen philosophischen Einstimmung, sollte aber durch die autonome
Lektüre eines jeden Einzelnen auf eigene Weise fortgesetzt werden.
Das im Hinblick auf das Aussehen seiner Bücher ästhetisch wenig anspruchsvolle
Suhrkamp-Habermas-Taschenbuch-Imperium ist dafür wohl kaum zu empfehlen. Zu
dieser Erkenntnis wird der Leser des Buches von Kunze (Grabert-Verlag) aber
ohnehin selbst gelangen, kommt dies doch ästhetisch edel in Leinen und
Goldgravur daher, wird also zudem abschließend sogar noch den optischen
Ansprüchen eines philosophisch lebenden und schauenden Menschen mit seinen
Ansprüchen gerecht.
Fazit
Eine geeignete Einführung in das philosophische Denken und sogar noch etwas
darüber hinaus.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 06. Juli 2007 2007-07-06 12:12:38