70 Jahre nach Kriegsende erscheint mit Ralf Rothmanns Roman einer der
eindringlichsten Bücher über das Kriegsende und den Leiden der einzelnen
Soldaten. Walter Urban, Jahrgang 1927, ist Melker und 18 im Jahre 1945. Zusammen
mit seinem Freund Fiete wird er im Dorfkrug von der Waffen-SS zwangsrekrutiert.
Der kräftige Walter und der schmale Fiete ziehen zunächst gemeinsam in den von
beiden abgelehnten Krieg. In eindrucksvollen Bildern beschreibt Rothmann die
Erlebnisse von Walter aus dessen Perspektive. Während er - trotz innerer
Ablehnung des Regimes - sich anpasst, um zu überleben (die Amerikaner sind
bereits am Rhein, der Engländer vor Kleve), kann sich der intelligente und
vorwitzige Fiete mit der Situation nicht abfinden. Beide werden in Ungarn
eingesetzt, Fiete desertiert, wird gefasst und zum Tode verurteilt. Walter wird
vom befehlshabenden Sturmbannführer gezwungen, der Hinrichtung nicht nur
beizuwohnen, sondern den Freund selber mit zu erschießen. Wenn er sich weigere,
werde er ebenfalls an die Wand gestellt.
Die Szene des Abschieds der beiden Freunde voneinander ist der emotionale
Höhepunkt des Buches und es hat mich tief ergriffen. Wie der Sturmbandführer
sich an Walters Verzweiflung weidet, als dieser für seinen Freund bittet, um
ihm am Ende anzuraten, genau zu zielen, damit sein Freund Fiete nicht weiter
leide, ist packend beschrieben. Immerhin darf Walter sich von seinem Freund
verabschieden. Im Kellergefängnis schmiert er dann Schwefelsalbe auf die
entzündeten Flohstiche an Fietes rasiertem Kopf. Der Verurteilte liefert hier
das Motto des gesamten Romans: "Seelisch oder körperlich verwundet zu
werden, macht was mit den Nachkommen. Die Kränkungen, die Schläge oder die
Kugeln, die dich treffen, verletzen auch Deine ungeborenen Kinder." Die der
Einleitung voranstehende Bibelstelle "Die Väter haben saurer Trauben
gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden"
(Ezechiel) wird in diesem Zusammenhang besser verständlich.
Auch wenn es in dem Buch nirgendwo deutlich angesprochen wird: die Hinrichtung
des Freundes zeichnet Walter für sein gesamtes Leben; er wird mit der Schuld,
den Mut nicht gehabt zu haben, den Schießbefehl zu verweigern und mit dem
Freund gemeinsam in den Tod zu gehen, nicht fertig. Walter tröstet sich vor
seiner Frau damit, dass bei Hinrichtungen immer in einem Lauf eine Platzpatrone
sei - so kann er sich bis zum Schluss der Illusion hingeben, den Freund nicht
zusammen mit vier weiteren Kameraden, eigenhändig erschossen zu haben. Doch von
dem Moment des Todes seines Freundes ist er seelisch gebrochen und de facto tot,
auch wenn er nach Kriegsende noch 42 Jahre lebt. Er heiratet nach dem Krieg,
zieht ins Ruhrgebiet, wird Bergarbeiter und stirbt mit 60 Jahren an Krebs -
körperlich und seelisch verbraucht. Seine letzten Gedanken am Sterbebett - von
seinem Sohn aufgezeichnet - gelten dem Krieg, der ihn prägte.
Was mir an dem Buch gut gefallen hat, sind die eindringlichen Bilder vom Grauen
des Krieges, der Verrohung einiger Offiziere, die Freude an Demütigung und Mord
empfinden. Diese Schilderung gelingt Rothmann meisterhaft. Mich hat ebenfalls
beeindruckt, dass es sich bei dem Buch nicht um eine Abrechnung des Sohnes mit
dem Vater handelt, sondern um den Versuch, den Vater zu verstehen. Keine Spur
von Abrechnung mit der "Vätergeneration", sondern Verständnis für
den Vater, der mit äußerstem Mut versucht hatte, das Leben des Freundes zu
retten.
Leider ist das Buch zu lang geraten. Die Ereignisse als Novelle geschildert -
auf 100 bis 150 Seiten, wären m.E. eindrucksvoller gewesen als einen Roman auf
über 230 Seiten zu kulminieren. Nach der Beschreibung der Hinrichtung des
Freundes ist die Luft "raus", den Rest - die letzten 50 Seiten -
hätte sich der Autor meines Erachtens sparen können. Auch zuvor wirken einige
der geschilderten Szenen - es gibt keine Kapitel, sondern nur kurze
Erzählabschnitte der einzelnen Erlebnisse Walters - für das Geschehen unnötig
und überflüssig. Sie hemmen meines Erachtens den Erzählfluss.
Fazit
Insgesamt jedoch werden diese Schwächen aufgewogen durch die ergreifende
Abschiedsszene der Freunde. Etwas so Tiefgehendes, emotional
"Packendes" habe ich selten gelesen. Daher gehört "Im Frühling
sterben" trotz einiger erzählerischer Schwächen insgesamt zu den
wichtigsten Neuerscheinungen dieses Frühjahrs. "Man liest Ralf Rothmanns
neuen Roman über eine Freundschaft, die vom Bösen überrollt wird, unter
Hochspannung voller Bewunderung für die Nähe zu den Protagonisten."
Dieser Festellung der "Zeit"-Rezensentin Ina Hartwig ist nichts
hinzuzufügen.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 03. Juli 2015 2015-07-03 11:27:20