Das "Schwarzbuch des Kommunismus" ist bei seinem Erscheinen häufig
kritisiert worden. Insbesondere die Gegner der sogenannen
Totalitarismus-Theorie, die besagt, dass die Herrschaftstechnik von Kommunismus
und Nationalsozialismus vergleichbar seien, haben dieses Buch heftigst
kritisiert. Nun ist die engagiert geschriebene Einleitung des bekannten
Kommunismus- und Totalitarismus-Forschers Stephane Courtois nach Öffnung der
russischen Archive zutreffend. Allerdings scheint er zeitweise wirklich die
"Leichen" gegeneinander aufrechnen zu wollen. Er leugnet allerdings
nicht - wie zeitweilig irrtümlich behauptet - die Singularität von Ausschwitz.
Mit Ausnahme Kubas (was nach Auffassung des Autors zu beweisen wäre) und der
Sandinisten Nicaraguas hätten Kommunisten Andersdenkende eingesperrt und Gewalt
gebraucht. Dies wird an den weiteren Veröffentlichungen, bei denen der
"real existierende Kommunismus" in den einzelnen Ländern untersucht
wird, noch weiter verdeutlicht. Allerdings bleiben diese Beiträge betont
sachlich. Zunächst untersucht Nicolas Werth in dem Beitrag: "Ein Staat
gegen sein Volk" den sowjetischen Kommunismus (dieser Beitrag ist
inzwischen auch als Einzelband lieferbar), wobei er betont sachlich bleibt und
die Verbrechen Lenins und Stalins untersucht. All diese Verbrechen sind
spätestens seit Alexander Solschenizyns: "Archipel Gulag" bekannt.
Die Öffnung der Archive beweist eindeutig, dass der Terror nicht erst unter
Stalin, sondern auch schon unter Lenin begann. Nachdem Dimitri Wolkogonow dies
in seinem Buch "
Die sieben
Führer" und in seiner Lenin-Biographie bereits festgestellt hatte,
wird diese Sicht jetzt auch durch den "Vater der Perestroika",
Alexander Jakowlew, bestätigt, dessen
Erinnerungen im Dezember 2003
anlässlich dessen 80. Geburtstags veröffentlicht worden sind. Insofern kommen
Werths Enthüllungen nicht überraschend. Interessant jedoch, dass er über die
Oktoberrevolution differenziert urteilt. In dem "Historikerstreit", ob
es sich bei dieser Revolution um einen Putsch einer organisierten Gruppe
(Richard Pipes) oder um eine soziale Revolution gehandelt habe, urteilt er,
beides treffe zu: es habe einerseits eine politische Machtergreifung als Frucht
eines sorgfältig vorbereiteten Aufstandes gegeben, allerdings gleichzeitig eine
"umfassende, vielgestaltige und autonome soziale Revolution." Hier
urteilt er in der Tat differenzierter als Jakowlew und weitere führende
Historiker. Der Vorteil dieser recht eindimensionalen dualistischen
Geschichtsbetrachtung ist nach Werth folgender: "Die russische Gesellschaft
wird [durch eine solche Betrachtung; B. N.] von einem Schuldgefühl befreit, von
einem Gefühl der Reue, das in den von der schmerzlichen Wiederentdeckung der
Perestroika-Jahren eine starke Belastung gewesen ist. Wenn der bolschewistische
Staatsstreich von 1917 nur ein Unfall war, so war das russische Volk nur ein
unschuldiges Opfer."
Des weiteren wird detailliert in einem zweiten Teil: "Weltrevolution,
Bürgerkrieg und Terror die Politik des Komintern unterscucht sowie in einem
dritten Teil die kommunistischen Regime in Ost-, Mittel- und Südosteuropa,
bevor in Teil 4 die kommunistischen Regime in Asien untersucht werden.
Ein weiteres Kapitel untersucht politische Verbrechen der DDR, bevor sich
Stephane Courtois mit der Frage des "Warum" beschäftigt. Hier wurde
ich etwas enttäuscht, denn die Frage, warum eine an sich den Menschen
zugewandte Ideologie sich in der Praxis als menschenfeindlich herausstellt, wird
nicht befriedigend beantwortet. Warum gab es diese Differenz in Ideologie und
Praxis? Ist es die "Tradition der Gewalt" (S. 803), Intoleranz, reiner
Machtwille (S. 805), die dazu führte? Dies erscheint mir insgesamt zu kurz
gegriffen und nicht differenziert genug ausgeleuchtet zu sein.
Fazit
Ein sehr interessantes Buch über die Verbrechen des Kommunismus, wobei jedoch
zu sehr auf die herrschende Praxis geschaut wird und die Frage des
"Warums" - nämlich warum die zunächst eher menschenfreundliche
Ideologie der Sozialisten/Kommunisten in eine so menschenverachtende Praxis
mündete, zu kurz kommt. Hier hätte ich Betrachtungen, wie sie Tim Guldiman in
seinem heute noch lesenswerten Buch: "Moral und Herrschaft in der
Sowjetunion" über die Moralstrukturen im Kommunismus angestellt hat,
erwartet. Insgesamt dennoch ein wichtiges Grundlagenwerk zur Erforschung des
Kommunismus, dem sicherlich weitere folgen werden.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 10. Februar 2004 2004-02-10 19:39:00