Der Göttinger Osteuropa-Historiker Manfred Hildermeier hat auf 1206 Seiten eine
fundierte Geschichte der Sowjetunion von 1917 bis 1991 vorgelegt. Ausführlich
legt er im ersten Teil die Gründe des Unterganges des Zarenreiches dar, wobei
er - wie in seiner gesamten Darstellung den Schwerpunkt auf Wirtschafts- und
Sozialgeschichte legt. Mit "gescheiterter Demokratie" beschreibt
Hildermaier, der bereits ein Buch über die "Russische Revolution 1905-1920
vorgelegt hat, das Ende der Monarchie und den Zeitraum der Februar- bis zur
Oktoberrevolution. Teil 2 beschäftigt sich mit dem Aufbau des Sowjetstaates,
wobei er zunächst die Zeit des Oktoberumsturzes und des Bürgerkrieges bis zur
Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstandes 1921 untersucht. Mit
"Atempause und Regeneration: die NEP" wird die Zeit der Konsolidierung
1921 bis 1928 untersucht. Auch hier liegt der Schwerpunkt eindeutig nicht auf
der Ereignis-, sondern der Sozialgeschichte. Hildermaier bemüht sich, streng
"wissenschaftlich objektiv" zu schreiben und sich wissenschaftlich
nicht abgesicherter Wertungen zu enthalten. Dies mag in diesen
Einleitungskapiteln noch angehen, stört mich aber besonders bei der Darstellung
der Zeit der Diktatur Stalins, die euphemistisch mit dem Begriff der
"Mobilisierungsdiktatur" (Teil 3) umschrieben wird. Hier untersucht
der Autor die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Voraussetzungen der Diktatur Stalins. So wird die Zeit des Terrors und der
Schauprozesse - historisch korrekt - auf knapp 20 Seiten abgehandelt (S.
444-463). Ein Beispiel: wie man angesichts der Hungerkatastrophe die Ernte von
1933 als "wider alles Erwarten einigermaßem ausreichend" (S. 444)
beschreiben kann, wo in dieser Zeit eine von Stalin initiierte Hungersnot
herrschte, bleibt Geheimnis des Autors. An gleicher Stelle etwa fällt auf, dass
Hildermaier der Frage, inwieweit Stalin Verantwortung für die Ermordung des
Leningrader Parteichefs Kirow, den er - wie Rybakows "
Kinder des Arbat" zweifelsfrei
zeigt, als potentiellen Rivalen wahrgenommen hat, schlicht ausweicht. Die
gesamte Vorgeschichte und Geschichte dieses Mordes beruhe auf einer fragilen
Indizienkette. Es könne sein, dass Stalin Schuld an dem Verbrechen trage, es
könne aber auch anders gewesen sein (S. 446). Immerhin bemüht sich der Autor
um eine Definition des bis heute umstrittenen Begriffs des
"Stalinismus", wobei bis heute nicht klar sei, was darunter zu
verstehen sei (S. 741). Auch Hildermaier bietet keine befriedigende Definition
an dieser Stelle an und begnügt sich im wesentlichen miteiner kritischen
Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus-Modells, welches seit dem Amtsantritt
Gorbatschows gerade in Publikationen des Ostblockes eine neue Renaissance erlebt
hat. Immerhin konstatiert er, niemand könne den Begriff des Stalinismus von
dessen Person und Wirken trennen (S: 751). Auch die Geschichte der Sowjetunion
zwischen 1953 und 1985, also im wesentlichen die Herrschaftsperioden
Chruschtschows und Breschnjews, werden weniger als Ereignisgeschichte, sondern
schwerpunktmäßig unter gesellschafts, - wirtschafts- und sozialpolitischen
Aspekten untersucht. Der Machtwechsel zur jungen Generation wurde, wie
Hildermaier korrekt schreibt, bereits unter Andropow eingeleitet. Bei aller
Würdigung der "außerordentlichen Durchsetzungskraft Gorbacevs verdient
der Umstand größere Beachtung als bisher, daß der Elitentausch unter Andropov
begann." Nachdem der Problemdruck am Ende der Breschnjew-Ära unübersehbar
wurde, wurde deutlich, dass eine Anhebung des Lebensstandards der Bevölkerung
lediglich über größeres Engagement der Menschen und mehr Eigeninitative
möglich war. Damit stand das diktatorische Herrschaftssystem selber zur
Disposition, welches letztlich nicht mehr reformierbar war. Dies erkannte
Gorbatschow, der über Charisma und eine öffentlichkeitswirksame
Persönlichkeit verfügte. Er war lernfähig und bereit, den "Sprung ins
Ungewisse" (S: 1026) zu wagen. Er wagte systemsprengende Maßnahmen, die
von der Nomenklatura nicht erwartet worden waren und erhöhte dadurch seine
Glaubwürdigkeit. Allerdings führte dies - auch aufgrund ausbleibender Erfolge
der "Pestroika" - zum erbitterten Widerstand seiner Gegner in Partei,
Polizei und Militär. Sie putschten 1991. Als entscheidende Ursache für das
Scheitern des Putsches bezeichnet Hildermaier die Tatsache, dass die Putschisten
den im Juni 1991 gewählten russischen Präsidenten Jelzin nicht festnahmen, dem
es gelang, mit seinem Wagen sein Dienstgebäude zu erreichen (S: 1056).
Pointiert hat man daher gesagt, das beste an der perestroika sei ihr Ende
gewesen. Aber immerhin gab es - so konstatiert Hildermaier korrekt - keinen
Staat vergleichbarer Größe auf der Erde, der so geräuschlos und friedlich von
der historischen Bühne abtrat. Dass es nicht zu mehr Gewalt dabei gekommen ist,
darin liegt Gorbatschows Verdienst.
In dem 1996 geschriebenen Werk schreibt Hildermaier zu recht: "so spricht
vieles dafür, das dominante Merkmal des politischen Prozesses im gegenwärtigen
Rußland nicht in der Bündelung und Artikulation gesellschaftlich-öffentlicher
Meinungen durch Parteien zu sehen, sondern in der Durchsetzung der Vorstellungen
und Interessen des Präsidenten und seiner Klientel aus Repräsentanten vor
allem der wirtschaftlichen, militärischen und bürokratischen Elite."
Diese Feststellung, 1996 unter Jelzin getroffen, ist korrekt. Dies zeigt sich
vor allem im Rußland des gegenwärtigen Präsidenten Putin, in der die von
Gorbatschow eingeleitete Entwicklung zur Zivilgesellschaft rückgängig gemacht
wurde und erneut ein Rückfall in den traditionell patrimonialen Staat (Richard
Pipes) mit allen Merkmalen der Präsidialdiktatur zu beobachten ist.