Sehnsüchtig und Getrieben
Kurz vor seinem 80. Geburtstag fliegt der weltbekannte und größte aller
Dirigenten, Karl Amadeus Herzog zu einer Probe in New York ein. Pünktlich zu
seinem 80. Geburtstag will er wagen, was noch nie zuvor ein Dirigent umgesetzt
hat. Das Philharmonie Orchester aus der Ferne über eine Sattelitenübertragung
dirigieren und damit nachweisen, dass von jedem Platz der Welt aus ein Genie wie
er die Musiker zu Höchstleistungen zu bringen vermag.
Das ist nur einer seiner "Augenblicke der Ewigkeit", auf die er Zeit
seines Lebens hingestrebt hat. Musikalisch begnadet, aber menschlich in
vielfacher Form mit Brüchen und Schatten versehen, geht Karl Amadeus Herzog
seinen Weg durch das 20. Jahrhundert, die Musikgeschichte, vor allem aber durch
seine menschlichen Dramen und poltischen Verflechtungen. Ähnlich wie Klaus
Manns Mephisto ist er nämlich eine jener begnadet-dämonischen Personen, die
nichts anderes betrachten und verfolgen können als das, was in ihnen schwelt
und dafür bereit sind, jeden Preis zu bezahlen.
So bereits ahnt es der Leser zu Beginn des Buches. Mit dem Sohn zerstrittender
keinen Kontakt mehr zu seinem Vater wünscht. Sein Vater, der ihm, dem Sohn, die
Frau ausgespannt hat und den er nur mehr zynisch als "Görings
Hofkapellmeister" tituliert.
Doch in New York geschieht etwas. Wie Aussetzer erlebt es Herzog, teilweise
überkommt ihn auch echte Ohnmacht und in solchen kurzen Momenten brechen die
Erinnerungen mit Macht über ihn hinein. Daran, wie sein Vater vor ihm
erschossen wurde, als er Kind war. Daran, wie Franziska, seine
Kindheitsfreundin, an ihn glaubte. Daran, dass sein Getrieben Sein auch damit zu
tun haben könnte, dass er den Rum nicht für sich, sondern für seinen Vater
wollte, seine lebenslange Anerkennungssucht in jenem Trauma aus der Kindheit zu
finden ist. Und so begleitet der Leser Karl Amadeus Herzog durch sein
äußerlich und innerlich außerordentliches Leben in der Erinnerung des
musikalischen Genies, durchbrochen immer wieder von der Gegenwart, in der all
diese Erinnerungen beginnen, zusammen zu kommen und vielleicht zu einer
Veränderung der Person führen könnten.
Ein Trauma der Kindheit, das allerdings bei weitem nicht alle Brüche zu
erklären vermag. Denn genauso intensiv, wie er sich mit Menschen, die er
begehrte oder zu nutzen vermochte, zusammentat auf seinem Lebensweg, genauso
schnell ließ er all jene fallen, wenn sein Interesse weitereilte, wenn sie
ihren Nutzen erfüllt hatten, wenn sie seinem Ruhm im Wege standen. Frauen ließ
er zerbrochen zurück, ehemals engste Freunde sprechen nicht mehr mit ihm. Und
dennoch ist er, auch jetzt noch, weiterhin ein Getriebener, der den Olymp der
Musik für sich in Anspruch nimmt und dem Tod die Ewigkeit des Schaffens
gegenüberstellt.
Gehasst, verachtet aufgrund seiner völligen Skrupellosigkeit, völlig in seiner
Welt verfangen,
Bernhard Sinkel gelingt ein überzeugendes, tiefreichendes Ausloten seines zwar
fiktiven, doch in vielem mit Anklängen an Übergestalten der Musik versehenen
Protagonisten. Ein Buch, das in seiner sprachlichen Kraft seltene Augenblick zu
gestalten vermag. In der Schilderung des inneren Erlebens des Dirigenten beim
Dirigieren wird fühlbar und fassbar, welche Kraft der Musik im hingegebenen
Genius sich ausbreitet und welche Leidenschaft solche Menschen vorantreibt, die
meist nur von Ferne betrachtet werden können. Ein weiterer Augenblick der
Ewigkeit, dem so manche noch folgen.
Fazit
Es macht sich bemerkbar, dass Bernhard Sinkel über einen großen
Erfahrungsschatz im Film verfügt und seine Sprache in bester Weise das
bildhafte in Worte zu fassen vermag. Ebenso, wie es ihm gelingt, bis in die
Nebenpersonen hinein ein fassbares und differenziert gezeichnetes Bild der
Charaktere vor Augen zu führen. Wie ein Sog bauen sich durch seine Worte Bilder
und Empfindungen auf, die noch lange nachhallen. Ein wunderbares Buch.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 28. September 2010 2010-09-28 19:20:16