Wieder einmal war das luxuriöse Hotel "Bellevue" in Baden-Baden der
Ort, an dem die Familie des bekannten Zeitungsverlegers Rosenbaum ihre
alljährlichen Urlaubswochen verbrachte. Für Hedda Rosenbaum war diese
Sommerfrische, die sie mit ihrer Mutter Meta, ihrem Gatten Josef, der Tochter
Selma und dem jüngeren Sohn Christian, genannt Grischa, in der eleganten
Kurstadt verbrachte, zur Tradition geworden. Das lockere, sorglose Leben, das
frei schien von aller Alltagsschwere, hatte es besonders den jungen Leuten
angetan. Mit überschäumender Freude genossen sie die festlich gedeckten
Tafeln, die Tanzvergnügen in den strahlenden Ballsälen, das von Mode und
Gesellschaftstratsch gesättigte Geplapper und den unterwürfig-exzellenten
Service des geschulten Personals, das den begüterten Sommerfrischlern jeden
Wunsch von den Augen ablas. Und diese Sommerwochen im August 1913 hatten noch
eine zusätzliche Besonderheit, denn mittlerweile hatte sich Selma mit Gero von
Sudloff verlobt, dessen schimmernden Ring sie am Finger trug und dessen rotes
Cabrio vor dem imposanten Hotelportal nur darauf wartete, mit der emanzipierten,
jungen Führerscheinbesitzerin die Gegend zu erkunden. Allein bleiben musste sie
auch nicht bei ihren Unternehmungen, dafür sorgte die Bekanntschaft mit
Constanze, die mit ihrem Vater, dem Maschinenfabrikanten Otto Weißkirchner aus
Metz, ein paar Ferientage in Baden-Baden verbrachte und sich gleich zu der
parkettsicheren Selma hingezogen fühlte. Die kopflose Verwirrung, die das
Treffen mit dem Franzosen Robert Beck, einem Fotografen aus Belfort, zu stiften
vermochte, war allerdings nicht vorhersehbar und brachte ein ziemliches
Gefühlschaos mit sich. Aber die Zeit verharrte nicht in Tändeleien und
romantischen Glücksgefühlen. Die Schatten des ersten Weltkrieges setzten
diesem glücklichen Sommer ein Ende und ließen den Walzer der Unbeschwertheit
verklingen. Es ist die geschichtsträchtige Zeit des ersten Weltkrieges, in der
Heidi Rehns Roman seinen Platz hat. Mit ungeheurer Detailverliebtheit skizziert
die Autorin ihre Protagonisten, ihr Umfeld, Handlungsweisen und Beweggründe.
Flüssig ist ihr Schreibstil, die Sprache ist angenehm und sehr gut
verständlich, für meine Begriffe hätte es des anhängenden Glossars nicht
bedurft, aber das ist natürlich Ansichtssache.
Der Roman ist ein Zeitgemälde, die Darstellung einer bestimmten
Gesellschaftsschicht, deren Oberflächlichkeit und Selbstverliebtheit eine
Dekadenz enthielt, die nur schwer zu akzeptieren ist. Selma Rosenbaum ist ein
besonders eindrucksvolles Beispiel für die höheren Töchter, die - verwöhnt,
anspruchsvoll und eitel - gedankenlos in den Tag hinein lebten, ihr einziges
Streben lediglich auf das eigene Vergnügen und die Befriedigung ausgeprägter
erotischer Gelüste gerichtet, deren Umsetzung allerdings so zügellos und
ungehemmt vonstatten ging, dass ich als Leser recht befremdet war. Man muss
nicht prüde sein, um ein solches Verhalten zu Anfang des zwanzigsten
Jahrhunderts als extrem ungewöhnlich zu empfinden. Trotz dieser überbordenden
Leidenschaftlichkeiten bleibt die Person der Selma seltsam ausdruckslos und
blutleer, wie auch der Reigen der umgebenden Darsteller in meinem Kopf über ein
Schattendasein nicht hinausgekommen ist. Selbst im weiteren Verlauf des Buches,
in dem politische und menschliche Veränderungen in hohem Maße vorhanden sind
und gute Aspekte mehr Tiefe und Nachhaltigkeit hätten bringen können, bleibt
der Eindruck auf mich leider seicht und in einigen Passagen zu unglaubwürdig.
Der Ursprungsgedanke, der diesem Buch zu Grunde liegen mag, ist wunderbar
geeignet, einen spannenden Bogen über Zeiten und Menschen im Wandel zu spannen.
Gefühlsintensität und Ausdrucksstärke, die den Protagonisten Markanz
verleihen würden, liegen fast greifbar zwischen den Zeilen. Leider führt hier
eine Überfrachtung in Details zum Verlust positiver Werte, durch die sich ein
Buch Unvergessenheit schaffen kann. Ich will auf keinen Fall in Abrede stellen,
dass einige Leser hier trotzdem gute Unterhaltung finden, nur mein Ankommen im
Buch und meine Identifikation mit den Personen hat leider nicht geklappt.
Fazit
Ein Buch mit Potential, das leider viel vermissen läßt.
Vorgeschlagen von brillenbaby
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veröffentlicht am 14. August 2014 2014-08-14 09:26:40