Im Rahmen eines Vortrages über die Juli-Krise 1914 stieß ich auf dieses Buch.
Volker Berghahn, Autor des Buches: "Der Erste Weltkrieg" im
Beck-Verlag schrieb, dass dieses Werk das Buch von Christopher Clark: "Die
Schlafwandler" entscheidend beeinflusst habe. Dieser sei insbesondere in
seiner Sicht der Rolle Russlands von McMeekins Buch inspiriert worden. Diese
These hat vor McMeekin schon L.C.F. Turner und danach Edward McCullough
vorgetragen. McMeekin sieht in dem Verhalten der russischen Führung in St.
Petersburg den "Schlüssel" zum Ausbruch des ersten Weltkrieges.
Insbesondere Außenminister Sergej Sasonow und die militärische Führung habe -
gegen den anfänglichen Widerstand des Zaren Nikolaus II. - gezielt nach der
Veröffentlichung des österreichisch-ungarischen Ultimatums auf den Krieg
hingearbeitet. Die Vorbereitungen seien über die offizielle Teilmobilmachung
der Armee hinausgegangen. Russland habe - ermutigt durch die Rückendeckung der
französischen Führung (Staatspräsident Poncaré und Regierungschef Viviani
hielten sich Ende Juli zu einem Staatsbesuch in St. Petersburg auf) das Attentat
von Sarajewo zum Anlass genommen, einen großen Krieg gegen Deutschland und
Österreich-Ungarn zu provozieren und hätten Deutschland, Österreich-Ungarn
aber auch Großbritannien über ihre Aktionen gezielt getäuscht, um letzteres
auf ihre Seite in den Krieg zu führen.
Berghahn schreibt in seinem Buch: "Für den Autor [McMeekin, B.N.] sind
also die vier Tage vom 26. bis zum 29. Juli entscheidend, für die er als
Beweismittel für seine Interpretation eine ganze Reihe von Dokumenten und
späteren Aussagen heranzieht. Anhand dieser weist er scharfsinnig und durchaus
überzeugend nach, dass im Westen des Landes [Russland, B.N.] sehr viel
umfangreichere miltiärische Maßnahmen ergriffen wurden, die einer
Vollmobilisierung gleichkamen. Nicht weniger wichtig ist, dass diese
Entwicklungen der deutschen Seite bekannt wurden, sodass diese den
Versicherungen Sasonows [...] nicht mehr glaubten. Mit anderen Worten, McMeekin
zufolge wussten Generalstabschef Helmuth von Moltke und Reichskanzler Theobald
von Bethmann Hollweg schon vor der offiziellen Verkündung der russischen
Vollmobilisierung am 31. Juli, dass St. Petersburg das Ziel eines großen
Krieges verfolgte. Daraufhin drängte jetzt Molkte mehr denn je den Kaiser, die
eigene Vollmobilisierung zu befehlen, bevor es zu spät sei. Dies bildete den
Hintergrund des deutschen Ultimatums an Nikolaus II., seinen Befehl bis zum 1.
August zurückzuziehen. Als dies nicht geschah, weil es infolge der schon
längst angelaufenen Vorbereitungen gar nicht mehr möglich war, unteschrieb der
Kaiser am Nachmittag des 1. August den entsprechenden deutschen Befehl. Der
große Vorteil dieser Abfolge war, dass Berlin sich nun rechtfertigen konnte,
sich in einem Verteidigungskrieg gegen Russland zu befinden. So erklärt sich
auch der Satz aus dem Tagebuch des Marinekabinettschefs Georg Alexander von
Müller, die Reichsleitung hab "eine glückliche Hand gehabt, uns als die
Angegriffenen hinzustellen."
Doch warum zielte das Zarenreich auf einen großen Krieg gegen die
Mittelmächte? Hier sind für McMeekin die seit Langem formulierten und nun zu
verwirklichenden Kriegsziele zentral. Seit Jahren schon habe das russische
Außenministerium die territoriale Expansion nach Süden und Südwesten und den
Zugang zum Mittelmeer durch eine Eroberung der Dardanellen anvisiert. Zum Teil
auf russischen Quellen basierend, entwickelt der Autor das Bild einer bewusst
verfolgten und langfristig gut koordinierten imperialistischen Politik St.
Petersburgs, die auf eine Beerbung des zerfallenden Osmanischen Reiches
abzielte.
An dieser Stelle ist auf ein Buch über die russische Außenpolitik zu
verweisen, das Dominic Lieven demnächst veröffentlichen wird. Darin
widerspricht er McMeekin, indem er - beruhend auf einer kürzlichen Auswertung
von einschlägigen Archiven in Moskau - ein hartes Gegeneinander mit zahlreichen
Meinungsverschiedenheiten innerhalb und zwischen den Ministerien während er
Vorkriegsjahre herausarbeitet. Diese Konflikte sieht er wiederum vor dem
Hintergrund einer breiteren Diskussion über die Lebensfähigkeit des
Zarenreiches, dem es nicht gelang, grundlegende modernisierende Reformen
durchzusetzen. Es gehörte daher zu den Ländern, die sich nicht selbstbewusst
im Aufstiegbefanden, sondern vom Zerfall bedroht waren."
Soweit Volker Berghahn (Quelle: Der Erste Weltkrieg. - Beck-Verl., 2014 (3.,
aktualis. Aufl.), Prolog, S. XII-XV).
Diese Zusammenfassung des Inhaltes von McMeekins Werk ist zutreffend. Zwar
relativiert er - im Gegensatz zu Clark - nicht die deutsche Verantwortung am
Ausbruch der Juli-Krise. Auch McMeekin kritisiert den unkonditionierten
"Blankoscheck" Deutschlands an Österreich-Ungarn am 5. Juli 1914 im
Zuge der Hoyos-Mission. Außerdem kritisiert er, dass Bethmann-Hollweg
Vermittlungsvorschläge des eigenen Kaisers Wilhlems II. nicht oder zu spät
nach Wien übermittelten (etwa den "Halt-in Belgrad"-Befehl) und auf
Vermittlungsvorschläge Großbritanniens nicht eingingen, wobei er - wie später
auch Clark - mit der britischen Politik in der Juli-Krise hart ins Gericht geht.
Großbritanniens Außenminister Edward Grey habe - weil er für ein
Zusammengehen mit den Entente-Mächten Russland und Frankreich zunächst keine
Mehrheit im britischen Kabinett gefunden habe - Deutschland zu lange im Glauben
gelassen, England würde in einem künftigen Krieg zwischen Deutschland und
Österreich einerseits und Russland und Frankreich andererseits neutral bleiben.
Es sei allerdings die Dummheit der Verletzung der belgischen Neutralität durch
Deutschland gewesen, der letztendlich das britische Kabinett am 4. August dazu
brachte, auf Seiten der Entente-Mächte in den Krieg gegen Deutschland und
Österreich-Ungarn einzutreten.
Das Buch ist äußerst spannend zu lesen. Es konzentriert sich auf die
Diplomatie- und Ereignisgeschichte des Juli 1914 und führt auch die zahlreichen
Quellen zur Krise auf, insbesondere die Edition von Albertini, die 2005 zwar ins
Englische, aber bislang leider noch nicht ins Deutsche übersetzt worden ist. Um
seine These eines russisch-französischen Zusammenspiels zu dokumentieren,
verweist er insbesondere auf eine Studie über die französische Politik in der
Juli-Krise von Stefan Schmidt.
Dies ist alles sehr gut recherchiert und belegt. Von daher ist das Werk eine
unverzichtbare Quelle über die Ereignisse des Julis 1914.
Mein Problem mit diesem Buch ist allerdings der Fokus, den McMeekin auf den
Faktor russische Mobilmachung legt. Für ihn ist dies der Schlüssel zum
Ausbruch des Krieges der Punkt, an dem eine friedliche Lösung der Krise nicht
mehr möglich gewesen ist. Ähnlich argumentiert auch Christopher Clark.
Meines Erachtens ist aber Jörn Leonhard zuzustimmen, der in dem meines
Erachtens besten Buch über den Ersten Weltkrieg ("Die Büchse der
Pandora", Beck-Verlag) argumentiert, entscheidend sei gewesen, wo der
Schlüssel zur Deeskalation der Krise gelegen habe. Und Leonhards Ansicht nach
lag dieser Schlüssel in Deutschland und in Großbritannien. Deutschland hätte
den unkoditionierten Blankoscheck an Österreich-Ungarn nicht geben dürfen;
England wiederum hätte stärker auf Russland und Frankreich einwirken sollen,
wegen Serbien keinen Krieg zu riskieren.
Ich teile die Auffassung von Annika Mombauer, die in ihrer Publikation über die
Juli-Krise 1914 (Beck-Verlag) die Hauptverantwortung nach wie vor bei
Deutschland und Österreich-Ungarn sieht. Nicht die russische
Generalmobilmachung, sondern der deutsche Blankoscheck an Österreich-Ungarn und
danach die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien, die ohne die
deutsche Rückendeckung nie erfolgt wäre, sind aus meiner Sicht die Ereignisse,
die den Weltkrieg unabwendbar machten, zumindest einen Krieg zwischen
Österreich-Ungarn und Deutschland einerseits, Russlands, Frankreichs und
Serbiens andererseits. Die britische Neutralität wäre ohne - modifizierten -
Schlieffenplan sicherlich dann möglich gewesen, wenn Deutschland nicht in
Belgien eingefallen wäre oder einfach Russland und Frankreich nicht den Krieg
erklärt hätte, sondern deren Kriegserklärungen einfach abgewartet hätte. Mit
Thomas Nipperdey und anderen Historikern ist dies die maßgebliche
"Schuld" des Deutschen Reiches: Blankoscheck an Österreich-Ungarn,
vorzeitige Kriegserklärung an Russland und Frankreich sowie die Verletzung der
belgischen (und luxemburgischen) Neutralität, um über diese Länder mit seinen
Truppen in Frankreich einzufallen. Aus meiner Sicht - und ich folge hier den
Historikern Krumeich, Mombauer und Berghahns, ist die Kriegserklärung
Österreich-Ungarns an Serbien der entscheidende Eskalationspunkt, der den Krieg
unabwendbar machte. Die deutsche Hoffnung, den Krieg "lokalisieren" zu
können, war zunichte. Die Ausweitung des Krieges auf die europäischen
Großmächte "wurde indessen zur Gewissheit, als Österreich-Ungarn am 28.
Juli den Angriff auf Serbien unter dem Vorwand einleitete, dass Belgrad das
Ultimatum nicht erfüllt habe." Hier - und nicht in der russischen
Generalmobilmachung - sehe ich den Schlüssel zum Krieg und kann Sean McMeekin
daher in seinen oben skizzierten Schlussfolgerungen nicht zustimmen.
Fazit
Dennoch ein äußerst interessantes, spannendes und lesenswertes Buch zum Thea,
vor allem, wenn man den Einfluss bedenkt, den dieses Werk offensichtlich auf
Christopher Clarks "Schlafwandler" gehabt zu haben scheint.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 11. Juli 2014 2014-07-11 23:38:58