Familiensagas sind die Domäne des weihnachtlichen TV-Programms. Aber es muss
nicht immer nur Fernsehen sein, um sich mit dem dramatischen Leben einer ganzen
Familie, welches über mehrere Jahrzehnte hinweg dargestellt wird, zu
unterhalten. In der Romanwelt sind ebensolche Epen bekannt. Eines davon ist der
vorliegende Roman "Die Frauen von Tyringham Park" der Schriftstellerin
Rosemary McLoughlin. Der zum größten Teil in Irland spielende Roman beginnt
während des ersten Weltkrieges im Jahre 1917, als die Suche nach der gerade
zweijährigen Victoria in vollem Gange ist. Das kleine Töchterchen derer von
Blackshaws ist just verschwunden, nachdem wenige Tage zuvor ein Kindermädchen
den Herrensitz verlassen hat. Alle sind zutiefst betroffen vom Verschwinden des
Kindes. Selbst die Dienstboten zeigen tiefes Mitgefühl. Die achtjährige
Schwester Charlotte verliert sogar ihre Stimme nach diesem Vorfall. Die Leute
gehen davon aus, dass sie sich die Schuld an dem Verschwinden von Victoria gibt.
Nur ihre Mutter Edwina interessiert sich nicht im Mindesten, wie es ihrer
größeren Tochter geht. Für sie hängt Victorias Verschwinden unmittelbar mit
dem des Kindermädchens zusammen. Den Vater, der in London im Kriegsministerium
arbeitet, macht diese Sache am allerwenigsten aus. Er hat keine Zeit, auf den
Herrensitz zurückzukehren und wäre dienstlich sehr stark eingebunden, ließ er
seine Frau in einem Brief wissen.
Charlotte ist die Protagonistin dieses Romans, obwohl der Klappentext mit dem
Hinweis auf das Verschwinden Victorias leicht in eine andere Richtung weist. Die
Spannung des gesamten Romans nährt sich aus der Entwicklung des achtjährigen
Mädchens zu einer stattlichen Frau, die viele Höhen und Tiefen durchleben
muss. Von dem eigenen Kindermädchen und selbst von der Mutter gehasst, hat sie
eine schwere Kindheit. Doch der Leser wünscht ihr, dass sie aus diesem Sumpf
von Abscheu herauskommt. Dabei ist Charlotte selbst nicht unfehlbar. So manches
Mal, wenn sie ohne Argwohn denkt, auch sie hätte ein Anrecht darauf, ein paar
Sonnenstrahlen abzubekommen, greift sie zu verkehrten Mitteln. Das Desaster kann
nur schlimmer werden. Sehr geschickt ist hier die Autorin mit den Konflikten
umgegangen. Immer, wenn der Leser denkt, jetzt hat Charlotte es geschafft, gibt
es den nächsten Tiefschlag. So müssen spannende Romane sein. Dabei werden die
zuvor lose liegengelassenen Fäden zu einem späteren Zeitpunkt wieder
aufgenommen. Die Konflikte werden gelöst.
Unwillkürlich wird der Leser an die Erzählungen von James Joyce erinnert. Das
liegt weniger an dem Stil dieser Schriftstellerin als an das gesamte Setting.
Joyce hat zu der Romanzeit des vorliegenden Romans gelebt und seine Geschichten
aus dem Irland Anfang des 20. Jahrhunderts geschöpft. So erscheinen die
Straßenzüge, die Freizeitvergnügen der Herrschaften, das Reden der Leute aus
der Upper Class sehr bekannt. Der Verlag zieht auf dem Klappentext den Vergleich
zu der englischen Fernsehserie "Downton Abbey". Dem kann man nur
bedingt folgen. Doch genau wie bei den Erzählungen von Joyce stimmt das
Ambiente in Zeit (zwischen ersten und zweiten Weltkrieg), Ort (Herrensitz) und
Figurenensemble (Adelige, Bürger und Dienstboten) überein.
Fazit
Ein historischer Roman, der nicht im Mittelalter spielt, aber dennoch nichts an
Dramatik, Spannung und Unterhaltung vermissen lässt. Es sind nahezu alle Genres
in ihm enthalten: Liebe, Abenteuer und Verbrechen. Es macht großen Spaß, ihn
zu lesen.
Vorgeschlagen von Detlef Knut
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veröffentlicht am 09. Mai 2014 2014-05-09 17:21:13