Ganz Deutschland ist im Bann skandinavischer Krimi-Autoren. Nur südlich der
Donau leistet Friedrich Ani mit seinem Kommissar Tabor Süden Widerstand gegen
die nordeuropäische Übermacht.
München im Jahr der Sonnenfinsternis und der Unterschriftensammlung der CSU
gegen die doppelte Staatsbürgerschaft: Süden ist zu Fuß in der Stadt
unterwegs und kann die 14-jährige Lucy in letzter Minute vor einem
heranrasenden Taxi zurückreißen. In diesem Moment scheinen sich zwei
Außenseiter gefunden zu haben: Süden, der einzelgängerische Störenfried, der
Mobiltelefone verweigert, bewarb sich zur (fiktiven) Abteilung Vermisste der
Münchener Kriminalpolizei, weil er kein weiteres Interesse an einer Karriere
bei der Mord-Kommission hatte. Er hadert noch immer mit persönlichen
Misserfolgen und dem Selbstmord eines Kollegen.
Lucy ist die Tochter eines Nigerianers mit Aufenthaltserlaubnis in Deutschland,
der in München völlig integriert ist und seine Freundin Natalia heiraten
möchte. Nach dem Tod ihrer Mutter wurde Lucy zur gewalttätigen
Mehrfach-Straftäterin. Sie raubt und schlägt, tut was sie will, ohne dass ihr
Vater Einfluss auf sie ausüben kann. Da sie noch nicht strafmündig ist, kann
sie für insgesamt 68 Straftaten nicht zur Verantwortung gezogen werden. Doch
nach ihrem 14. Geburtstag kommt sie wegen eines Überfalls auf einen anderen
Jugendlichen in Untersuchungshaft. Sie kann nicht sagen, warum sie ihr Opfer
zusammengeschlagen hat, zeigt nur Wut und Hass, kennt kein Mitleid mit ihren
Opfern.
Eine dubiose rechtsradikale Gruppe entführt Natalia, um die Abschiebung Lucys
und ihres Vaters nach Nigeria zu erpressen. Den Behörden scheint auch nichts
anderes einzufallen, als ein in Deutschland aufgewachsenes Mädchen in ein
fremdes Land abzuschieben, indem der Vater keine Einkünfte hat und es für
beide keine Zukunft gibt. Lesern, die mit dem Fall des 14-jährigen
Mehrfach-Straftäters M. in München vertraut sind, drängen sich Parallelen
auf. Auch in seinem Fall waren Eltern und Behörden hilflos, ihre Untätigkeit
erregte wochenlang die Öffentlichkeit und wurde von den Medien für deren
Zwecke ausgeschlachtet.
In beiden Fällen fragt man sich: Was wäre gewesen, wenn der/die Jugendliche
kein Ausländer wäre? Wohin hätten die deutschen Behörden ihn/sie dann
abgeschoben? Stecken wir angesichts der Gewalttätigkeit einzelner Jungendlicher
den Kopf in den Sand? Wer vertritt die Interessen der Opfer? Was ist mit dem
Recht auf körperliche Unversehrtheit der Mitschüler?
Die Parallelen zum aktuellen Fall M. sind Teil der Faszination, die das Buch
ausübt, und gleichzeitig seine Schwäche: ohne das Vorbild des realen
jugendlichen Gewalttäters hätte ich die Handlung absurd gefunden. Dass Lucy
ein Mädchen und dann noch Nigerianern sein muss, erscheint aufgesetzt und kann
den Vergleich mit M. nicht verhindern. Doch die deutsche Realität ist absurder
als ein Krimi je sein kann. Polizisten, Richter, Staatsanwalt und "der Mann
auf der Straße" werden in "German Angst" in ihrem alltäglichen
Rassismus entlarvt. Die Gruppendynamik einer rechtsradikalen Vereinigung ist
beeindruckend recherchiert und macht nachdenklich. Obwohl das Ende des Buches
recht märchenhaft wirkt, wuchs mir der Querulant Süden im Laufe der Handlung
richtiggehend ans Herz: Ich muss unbedingt wissen, was er in den weiteren
Süden-Krimis treibt und wie lange die bayerische Bürokratie ihn ertragen wird.
Fazit
Spannend und herausfordernd.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 12. Januar 2004 2004-01-12 21:20:19