Ich habe mir jetzt im Kino den Film "Luther" angesehen. Dieser und der
Artikel im "Spiegel" war für mich Anlass, mich erneut mit seiner
Lebensgeschichte zu befassen. Hier bietet sich das vorliegende Werk wie kaum ein
anderes an. Der Pädagoge Zitelmann schafft es, die Biographie eines der
"größten Deutschen" fesselnd nahezubringen. Die Widersprüchlichkeit
dieses Mannes, der es schaffte, in einem halben Jahrhundert die Welt
umzukrempeln (1555, zur Zeit des Augsburger Religionsfriedens sind 55% der
Bevölkerung evangelisch), wird ebenso deutlich gemacht wie deutlich wird, dass
die Zeit Luthers generell eine Zeit gesellschaftlicher und geistiger Umbrüche
darstellt - Thomas Morus schreibt sein "Utopia" in dieser Zeit, Vasco
da Gama entdeckt den Seeweg über das Kap der Guten Hoffnung, Amerigo Vespucci
den Amazonasstrom. Ein Weltbild wankt. Zitelmann verdeutlicht Alltag und
Weltbild des mittelalterlichen Menschen. Beiläufig erfährt man etwa
Einzelheiten über das neu eingerichtete Schulwesen und das Amt des
Schulmeisters. Überhaupt legt die vorliegende Biographie den Schwerpunkt sehr
auf das gesellschaftliche Leben und die sozialen Spannungen des Mittelalters.
Dies wird besonders durch die ausführliche Schilderung der Ursachen des
Bauernkrieges und Luthers Haltung zu seinem Widersacher, dem Bauernführer
Thomas Müntzer, deutlich. Müntzer werde zu recht im Zusammenhang mit Luther
gesehen und sei ohne diesen nicht zu denken. Wer sich hierfür näher
interessiert, sollte die ebenfalls von Zitelmann verfasste
Thomas-Müntzer-Biographie: "Ich will donnern über sie" (auch bei
Beltz & Gelberg erschienen) lesen.
Eine Biographie ist für mich dann gelungen, wenn sie die Wechselwirkung
zwischen dem Leben des Einzelnen und seinen Einfluss auf die Gesellschaft, in
der er wirkt, herausarbeitet. Der Einzelne wird bedeutend, weil die "Zeit
reif" ist, die gesellschaftlichen Umstände dies zulassen. Dies war im
Zeitalter des 16. Jahrhunderts, einer Zeit des Umbruches ebenso wie heute, der
Fall. Insofern ist Zitelmanns Werk gut gelungen.
Allerdings muss ich kritisieren, dass Luther insgesamt zu positiv gesehen wird.
Zwar wird das Vulkanische, das Widersprüchliche seiner Person gut
herausgearbeitet. Sein Wandel zum Antisemiten wird jedoch auf S. 188 eher
verschämt dargestellt als wirklich erklärt. Welche Wirkung die anitjüdischen
Hetzschriften seiner letzten Lebensjahre gehabt haben, wird nicht erläutert.
Auch sein patriarchalisches Denken wird zwar erwähnt, seine fatale Wirkung des
Bündnisses zwischen Altar und Thron (vgl. den hervorragenden Artikel des
"Spiegel" zu Luther in dieser Hinsicht) nicht herausgearbeitet.
Allerdings muss man wissen, dass diese Biographie in erster Linie zur
Erstinformation gedacht ist. Zielgruppe des zu recht auf die Auswahlliste des
deutschen Jugendliteraturpreises gesetzten Buches sind in erster Linie
Jugendliche und junge Erwachsene, wie in der gesamten biographischen Reihe des
Verlages Beltz & Gelberg.
Fazit
Misst man die vorliegende Lebensbeschreibung an diesen Ansprüchen, so ist -
insbesondere im Vergleich mit dem vollkommen unvollständigen Luther-Film - eine
solide Biographie entstanden, die meines Erachtens auch fesselnd zu lesen ist.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 30. Dezember 2003 2003-12-30 13:02:15