Die kunst- und literaturphilosophische Abhandlung von Walter Benjamin entstand
abschließend 1928, nachdem er sie von 1923 bis 1925 als Habilitationsschrift,
die zurückgewiesen wurde, verfaßte. Später wurde sie ohne weiteren Effekt im
Rowohlt-Verlag veröffentlicht. Diese Frühschrift Benjamins ist inhaltlich eine
Abwehr gegen philosophische und philologische Traditionen und
Wahrheitsansprüche seiner Zeit. Ein "Hauch der Relativität", der dem
"Wesen der Wahrheit" anhaftet (13) - darauf weist Benjamins berühmte
erkenntniskritische Vorrede bereits trefflich hin und macht seinen Anspruch
deutlich: Schöpfung eines sprachtheoretisch und geschichtsphilosophisch
fundierten Neuentwurfs von Erkenntnistheorie. Benjamins vorliegendes Buch
bezweckt es, die Subjekt-Objekt-Spaltung dialektisch auseinanderzufalten, um sie
schließlich zu synthetisieren in der Wahrheit der Idee, in der subjektives
Erkennen und objektives Sein zur Deckung kommen - eigentlich ein genuin
traditioneller Anspruch der Philosophie des Deutschen Idealismus: "Das
allgemeine ist die Idee. Das Empirische dagegen wird um so tiefer durchdrungen,
je genauer es als ein Extremes eingesehen werden kann." (17) - Leben ist
für Benjamin dort, wo es Synthesen und zugleich Extreme gibt. Also
offensichtlich ein integraler Anspruch, auf den der Autor verweist: Extreme als
partikulare Haltungen konvergieren im synthetischen Ganzen als deren Ursprung.
Das Trauerspiel im Sinn der kunstphilosophischen Abhandlung ist für Benjamin
deshalb auch eine Idee. Was den besonderen Unterschied der barocken Tragödie zu
ihrer von Nietzsche so oft beschriebenen antiken Vorläuferin darstellt, ist ihr
geschichtlicher Gehalt. Allegorisch ist das barocke Trauerspiel - oft
dargestellt als Leidensgeschichte der Welt - der Hinweis auf die Gegebenheit des
permanenten Verfalls. Der Hof als Zentrum des barocken Trauerspiels ist
solchermaßen die "Projektion des zeitlichen Verlaufs in den Raum".
Besonders hervorhebenswert ist an dieser Stelle, daß Benjamin hinsichtlich der
Theorie von der fürstlichen Gewalt im vorliegenden Buch sich ausdrücklich auf
die Lehre des Juristen Carl Schmitt beruft: "Die extreme Lehre von der
fürstlichen Gewalt ist in ihren - (...) - Ursprüngen geistvoller und tiefer
gewesen als ihre neuzeitliche Umbildung. Wenn der moderne Souveränitätsbegriff
auf eine höchste (...) Exekutivgewalt hinausläuft, entwickelt der barocke sich
aus einer Diskussion des Ausnahmezustandes und macht zur wichtigsten Funktion
des Fürsten, den auszuschließen." (47) Keine Frage, daß Carl Schmitt
hier als Kronzeuge fungiert und Benjamin auf Schmitts "Politische
Theologie" von 1922 verweist. Sicherlich war Benjamin hier auch geprägt
von der politischen Wirre seiner Zeit, denn Ende der zwanziger Jahre stand
bekanntlich der potentielle Ausnahmezustand täglich zur Debatte und gipfelte
infolge eingesetzter Präsidialkabinette schließlich im bekannten Akt von
1933.
Dem späten materialisierten Kern der Benjaminischen Heilserwartung entspricht
zudem ein materialisierter Wahrheitsbegriff. Deshalb stellt er auch besonders
heraus, das sich das deutsche Trauerspiel durch eine "Abkehr von der
christlichen Eschatologie" auszeichne - zum Zwecke eigentlicher Tragik,
wobei die "Flucht in eine unbegnadete Natur spezifisch deutsch" (62)
sei und sich mit dem Prinzip der Ehre amalgamiere. Freilich, schon Hegel meinte,
daß die Ehre speziell in Deutschland als das "schlechthin
verletzliche" gelte, worin wir 1918 nicht nur die einzigste Bestätigung
einer von Deutschen empfundenen Tragik sehen können.
Auch der Unterschied zwischen Tragik und dem oft irrtümlich als tragisch
beschriebenen Tod Sokrates’ wird von Benjamin zudem mit einer interessanten
Dimension bereichert: Sokrates Tod sei nicht die - wie z.B. nach Benjamins Tod
von Romano Guardini später beschriebene - Tragik schlechthin gewesen, da
Sokrates dem Tode ins Auge sah, getragen vom Wissen der Unsterblichkeit. Aber:
"Nicht so der tragische Held, der vor der Gewalt des Todes zurückschauert
als vor der ihm vertrauten, eigenen und eingebannten. Sein Leben rollt sich ja
aus dem Tode ab, der nicht sein Ende, sondern seine Form ist." (95) Der Tod
und nicht die Erlösung also als eigentliches zentrales und formgebendes Prinzip
im deutschen Trauerspiel. Es ließe sich hier an den verschollenen aber an
Bedeutung gewinnenden Philosophen Philipp Mainländer (1841-1876) erinnern, der
wohl genau in dieses von Benjamin beschriebene Raster sich einfügt. Meinländer
starb suizidal ausdrücklich ohne den Anspruch der Erlösung im Jenseits: "
- jenseits der Welt ist weder ein Ort des Friedens, noch ein Ort der Qual,
sondern nur das Nichts." (Philipp Mainländer, Vom Verwesen der Welt und
anderen Restposten, 2004, S. 122) Auch Mainländer verwies analog zum Topos des
permanenten Verfalls im barocken Trauerspiel unabhängig davon auf einen
weltimmanenten Verfall, getragen zudem von einer gesamten Metaphysik der
Entropie und der fortschreitenden Selbstauslöschung des Menschen.
Jedes zügige Nachschlagen oder Überprüfen des Inhalts dieses Buches wird
durch seine merkliche inhaltliche Tiefe, ja geradezu werksimmanente eigene
Tragik, erschwert, dies aber zugunsten des intensiven Lesers, der der
Unübersichtlichkeit des Ganzen so einiges an neuer Erkenntnis abgewinnen kann.
Allein die Liste derer, auf die sich Benjamin positiv-apologetisch beruft, ist
beeindruckend und erhellend: den Hölderlin-Herausgeber Norbert von Hellingrath
(166/167), Max Scheler, Benedetto Croce oder Carl Schmitt.
Fazit
Für wirklich am Thema interessierte also ein bedeutendes Buch!
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 12. Januar 2008 2008-01-12 11:31:36