Der Journalist und Rußland-Experte Roland Haug hat mit seinem Buch "Putins
Welt: Russland auf dem Weg nach Westen" eine solide Grundinformation über
Geschichte, Gesellschaft, Alltag und die Politik des Landes in den letzten
Jahren seit Gorbatschows Perestroika vorgelegt. In 22 kurzen Kapiteln berichtet
der Autor über sein anhaltendes Interesse an Russland und untersucht in dem
Kapitel "Das Russland-Klischee" die Frage, inwieweit es die vielfach
postulierte russische Seele gäbe. Darin stellt er fest, dass trotz Ansätzen zu
einer Entwicklung zu einer russischen Zivilgesellschaft im 19. Jahrhundert diese
Entwicklungen durch den Sieg der Bolschewiki zunichte gemacht wurden. Die
"russische Seele" sei durch die staatliche Geschichte und den Hang zu
Gleichheit und Egalitarismus geprägt worden. Die Sehnsucht nach einer
"starken Hand" komme Präsident Putin jedoch entgegen. Diese Sehnsucht
sei Ausdruck einer gewissen Initiativlosigkeit, die Gleichheit habe Vorrang vor
der persönlichen Tüchtigkeit, Sozialneid sei stark ausgeprägt. Die über
Jahrhunderte gewachsene Mentalität einer patriarchalischen Bauerngesellschaft
lasse sich nicht so leicht ändern. Auch neuere Meinungsumfragen belegten die
Neigung zu Kollektivismus und dem "starken Staat". Es läge freilich
nahe, dass es sich hierbei nicht um unveränderliche Meinungen handele, sondern
um eine Folge des vom Sowjetkommunismus geprägten Wertesystems. Dies wird
insbesondere daran deutlich, dass die jüngere Generation der 16-24-jährigen
die Schwerpunkte auf individuelle Freiheit und nicht auf die soziale Gleichheit
lege. Diese Generation wurde durch Gorbatschows Perestroika geprägt. Der Autor
setzt sich mit dem russischen Imperialismus und Sicherheitsbedürfnis,
historisch legitimiert durch den Anspruch, das "Dritte Rom" zu sein,
ebenso auseinander wie mit mafiösen Strukturen, die durch den Übergang zur
Marktwirtschaft unter kriminellen Bedingungen geprägt worden sei. Die
Entstehung organisierter Kriminalität sei immer mit dem Zerfall staatlicher
Ordnungen verknpüft, was insbesondere in der Jelzin-Ära offensichtlich
geworden sei. Jedoch sei es auch unter Putin nicht gelungen, ein
funktionierendes staatliches Abwehrsysetm zu entwickeln. Angesichts niedriger
staatlicher Gehälter gäbe es eine ausgeprägte Neigung zu Korruption und
Kleptokratie. Diese Korruption auf höchster Ebene behindere indes die
marktwirtschaftliche und demokratische Entwicklung. "Beamte mit Gehältern
von höchstens 160 Euro im Monat entscheiden mitunter über millionenschwere
Geschäfte." Dass der Alltag von starken sozialen Spannungen geprägt ist,
konstatiert der Autor im Kapitel: "Alltag und soziale Lage." So sank
das durchschnittliche Realeinkommen der Bevölkerung 1999, also im letzten
Jelzin-Jahr, um 15%. Unter dem Aspekt der Lebensqualität belege Russland
mittlerweile in der Welt nur noch den 72. Platz. Insbesondere das Leben in
Moskau sei sündhaft teuer geworden. "Rentnern, die nicht von ihren Kindern
versorgt werden, bleibt oft nichts aners übrig, als ihre letzte Habe zu
verhökern. Eine karge Monatsrente von umgerechnet 51 Euro zwingt viele
Pensionäre zum Nebenverdienst."Es sind diese Informationen, die das Buch
besonders interessant machen, zumal dies belegt, dass eine grundlegende
Verbesserung der Wirtschaftssituation unter Putin nicht erfolgt ist.
Insbesondere die hohen Ölpreise und die Abwertung des Rubels infolge der
Finanzkrise 1998 (mit der Folge, dass sich die Importe nach Russland
verringerten und mehr russische Produkte im Land nachgefragt wurden) führten zu
einer vorübergehenden wirtschaftlichen Stabilisierung unter Putin (vgl. auch
das Kapitel: "Auf dem Sprung nach vorn: Russlands Wirtschaft). Wie lange
diese anhalten wird, ist meines Erachtens völlig offen. Der Autor hat völlig
recht damit, dass insbesondere illegale Kapitalflucht, hohe Einfuhrzölle und
ein immer noch nicht funktionierendes Bankensystem bilden Russlands Schwächen.
Die Verhaftung des Yukos-Chefs Chodorkowski - nach der Publikation dieses Buches
erfolgt - illustriert die mangelnde Rechtssicherheit in Russland in aller
Deutlichkeit, auch wenn die Oligarchen in der russischen Bevölkerung unbeliebt
sind und Putins Vorgehen von vielen "kleinen Leuten" offenbar
gebilligt wird.
Lesenswert ist sein "Versuch eines Putin-Portraits" (S. 176-214).
Putin sei ein gebildeter Petersburger, rational und auch intellektuell völlig
präsent. Er sei nüchern, pragmatisch, präzise und effizient. Worte, die in
keinem westlichen Putin-Portrait mehr fehlen. Er sei jedoch auch ein
durchsetzungsfähiger Machtpolitiker, der durch seine Geheimdiensttätigkeit
geprägt worden sei; ein Autokrat in der Tradition des Zarismus. Aber er
verstehe sich auch als Reformer. Als Fazit jedoch sei festzustellen, dass das
Bild von einem reformfreudigen, liberalen Russland von der Wirklichkeit
meilenweit entfernt sei. Dies zeigt sich insbesondere in seiner Pressepolitik
(Kapitel: "Der Zensor im Kopf)" und in seinem Krieg gegen
Tschetschenien (Kapitel: "Putins Krieg"). Wie sein Vorbild Peter der
Große verbinde der Präsident den Modernisierungsanspruch des Landes und die
erklärte Öffnung nach Westen mit einer eisernen Faust in der Innenpolitik. Am
ehesten habe der Präsident als Außenpolitiker überzeugt. Tatsächlich habe er
den internationalen Kampf gegen den Terror als Chance begriffen, Russland neu zu
positionieren und dem Land ein komfortableres außenpolitisches Umfeld zu
schaffen. "Trotz der Defizite in Sachen Demokratie und trotz des Krieges in
Tschetscehnien hat sich Putin für den Westen damit als Glücksfall
erwiesen" - so der Autor. Insgesamt befinde sich Russland unter Putin auf
dem Weg nach Westen. Trotz der Differenzen im Irak-Krieg sei die russische
Außenpolitik auf langfristige, berechenbare und partnerschaftliche Beziehungen
zu den USA angelegt. "Es spricht für den Realismus der
Putin-Administration, dass man die schwächere Rolle des Landes inzwischen
akzeptiert." Auf die Frage, wohin Russland steuere, könne es heute nur
eine Antwort geben: Russland sei dabei, ein Teil des Westens zu werden. "Es
gehört zu Europa, und somit bleibt die Chance auf eine bessere Welt
bestehen."
Fazit
Das Buch bietet einen Rückblick auf 12 Jahre Politik in Russland und bietet
eine solide Erstinformation für historisch und politisch Interessierte.
Stellenweise scheint mir Putin insgesamt doch zu unkritisch gesehen zu werden.
Inwieweit er wirklich auf dem "Weg nach Westen" ist und ein
"Glücksfall für den Westen" darstellt, wie Haug meint, muss erst
noch bewiesen werden. Die im Vergleich zur Jelzin-Ära stärkere Stabilität des
Landes ist - wie der Tschetschenien-Krieg und die Bevormundung der Presse zeigt
- mit einer Rückkehr zum Autoritarismus meines Erachtens teuer erkauft.
Auch belegt der Autor seine Feststellungen zu wenig mit Quellen, die nur
marginal angegeben werden. Die Werke von Margareta Mommsen "
Wer herrscht in Russland?" sowie:
"Russland unter neuer Führung" sind daher - obwohl schon etwas älter
- dem vorliegenden Werk meines Erachtens vorzuziehen. Dennoch: solide
Erstinformation.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 29. Dezember 2003 2003-12-29 20:47:40