Einer Schriftstellerin, die als Mediävistin wie kaum eine andere die englische
Geschichte aus dem FF beherrscht, sei es gegönnt, sich in anderen europäischen
Landstrichen mit dem Schreiben abzulenken. Mit dem gerade erschienenen Roman Das
Haupt der Welt wendet sich Gablé dem deutschen Volke zu und nimmt das 10.
Jahrhundert unter die Lupe. Der Leser befindet sich zu Beginn in Brandenburg des
Jahres 929. Besser gesagt: auf der Brandenburg. Hier herrschen die Heveller, ein
slawischer Stamm im Havelland. Sie haben sich auf der Burg verschanzt, um einer
Belagerung des Frankenkönigs Heinrich zu widerstehen. Doch wie mit einem
Handstreich werden die Slawen besiegt. König Heinrich hält es mit seinen
Vorgängern und bemüht sich, das Reich der Sachsen nicht nur zu festigen,
sondern es auch zu erweitern und die heidnischen Stämme dem christlichen
Glauben zuzuführen. Bei Brandenburg erreicht er einen wesentlichen Sieg gegen
den Hevellerfürsten Vaclavic, dessen Sohn Bolilut bei diesem Kampf ums Leben
kommt. Vaclavics zweiter Sohn, Prinz Tugomir, und seine Tochter Dragomira werden
von Heinrich als Geiseln gefangen genommen und nach Magdeburg verschleppt. So
soll ein erneutes Aufbegehren der Heveller verhindert werden. Während der
Geiselhaft wird Dragomira von Otto, Heinrichs Sohn, geschwängert. Nicht gegen
ihren Willen. Sie hat sich in ihr Schicksal gefügt und findet den Prinzen
ebenso attraktiv wie er sie. Ihrem Bruder Tugomir jedoch ist das ein Dorn im
Auge. Doch so sehr er auch die Sachsen wegen ihrer Gewalttaten gegen die Slawen
hasst, kann er sich aufgrund seines edlen Geblüts nicht eines gewissen Respekts
seiner Unterdrücker gegenüber erwehren. Das Wort Freundschaft wäre zu viel
des Guten, aber Otto, Tugomir und Ottos älterer Bruder Thankmar schwimmen quasi
auf einer Wellenlänge.
Gablé hat auf 850 Seiten erneut ein großes Werk der Illusion geschaffen, die
Illusion einer Welt, in die die Leser entführt werden. Quasi eine Geiselnahme
mit dem Unterschied, dass sich die Leser hierhin gerne entführen lassen. Romane
wie dieser dienen mehr denn je dem Eintauchen oder Abtauchen der Leser in andere
Welten. Während es im täglichen Alltag immer mehr Stress und Hektik gibt, so
kann man sich in diesem Roman trotz aller rasanten Spannung, die ab der Hälfte
des Buches noch an Fahrt aufnimmt, in eine ruhigere und überschaubarere Welt
versetzen. Die Heldinnen und Helden erscheinen wie Menschen zum Anfassen, sie
sind sympathisch und liebenswert, genauso wie die Schurken hassenswert sind.
Besonders gelungen ist die Nachvollziehbarkeit der Gedanken der Helden.
Natürlich kann heute keiner sagen, was sich ein König bei einer Entscheidung
gedacht hat. Aber der fiktive Roman darf das und Rebecca Gablé nutzt das
entsprechend. Sie lässt den Leser teilhaben an der Entscheidungsfindung, sie
lässt die Zweifel, Ängste, Freiheiten, Zwänge und Gewissensbisse ihrer Helden
nachvollziehen. Die Entscheidungen der Herrscher wirken dadurch nicht mehr
historisch abstrakt, sondern menschlich. Stundenlang wird der Leser in dieser
Welt festgehalten, deren fiktive Handlung mit handwerklichem Geschick und
Können durch historische Fakten und Belege untermauert wird. Die
Schriftstellerin hat sich nach dem Studium altertümlicher Chroniken und
Schriften ihre eigene Meinung gebildet und bietet den Lesern eine Alternative zu
manchen Geschichtsschreibern darüber an, wie das Leben am Hofe König Ottos
verlaufen sein könnte. In gewohnter Weise hat sie real existierende,
historische Persönlichkeiten mit fiktiven Figuren gemischt, um ein
dramaturgisch verdichtetes Geschehen der Jahre 929 bis 941 im ostfränkischen
Reich aufleben zu lassen.
Fazit
Mit diesem Roman lässt sich Weihnachten sehr, sehr gut überwintern.
Vorgeschlagen von Detlef Knut
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veröffentlicht am 23. November 2013 2013-11-23 15:53:21