Manchmal - besonders am Abend eines anstrengenden Tages - verspüre ich das
Bedürfnis, mich von einem Roman auf intelligente Weise unterhalten und in eine
fiktive Welt entführen zu lassen, die meinen Geist in einer ganz anderen Art
beansprucht als mein Alltag. Wenn ein solcher Roman ein mich inspirierendes
Thema hat und eine schlüssige und überschaubare Handlung, wenn er klug
komponiert ist, sprachlichen Genuß bereitet und mit psychologischem Tiefgang
flüssig erzählt wird, mithin also schriftstellerisches Können beweist, dann
ziehe ich ihn selbst einem guten Spielfilm vor, denn er regt meine Phantasie
dazu an, mir bei der Lektüre meinen eigenen Film zu zeigen. Anne McLean
Matthews' Buch "Die Höhle" ist ein solcher Roman. Ich verdanke ihm
drei lange Abende fesselnder Begeisterung.
Helen Myrer, eine fünfundvierzigjährige engagierte Psychologin in
verantwortungsvoller Position mit langjährigen Erfahrungen im psychologischen
Sozialdienst und Mutter zweier Kinder, hat sich entschlossen, für zwei Wochen
Urlaub in einem sehr abgelegenen Ferienhäuschen am Lake Glory in New Hampshire
zu machen, wo sie zwölf Jahre davor schon einmal mit ihrem vor kurzem
verstorbenen Ehemann eine sehr glückliche Zeit verlebt hat.
Schon am Ankunftstag, als sie voller Erinnerungen durch die Räume geht, bemerkt
sie im Schatten einen Mann mit einer Strumpfhose über dem Gesicht und einem
Messer in der Hand. Da er sich ihr aber nicht nähert, beschließt sie, sich
ihre Angst nicht anmerken zu lassen und so zu tun, als ob sie von der
Anwesenheit des Fremden nichts wüßte, und dann zu fliehen. Aber ihre
Autoschlüssel sind nicht mehr da, und als auch ein Notruf mißlingt, weil das
Telefon nicht funktioniert, begreift sie den Ernst ihrer Lage. Außerdem zeigen
ihr direkte und symbolische Handlungen des Fremden aus dem Verborgenen heraus
unmißverständlich, daß sie sich in großer Gefahr befindet. Ihr Versuch, zu
Fuß zum nächsten Grundstück zu fliehen, scheint zu gelingen, denn sie wird
nicht verfolgt. Aber als der Fremde sie dort bereits erwartet, wird ihr bewußt,
daß dieser Fluchtversuch in seiner Absicht gelegen hat. Auch später entdeckt
sie immer wieder, daß alles, was sie tut, sich nachträglich als Teil seines
Planes erweist, der offenbar vorsieht, sie in einem präzise durchdachten und
brutal inszenierten Katz-und-Maus-Spiel psychisch zu foltern.
Helen erkennt im grausam raffinierten Verhalten ihres Peinigers, der ihr dann
auch körperliche Schmerzen und Wunden zufügt, einen hochintelligenten
Psychopathen. Ihr fachliches Wissen um psychologische Wirkungsmechanismen und
die Worte, die ihr zur Verfügung stehen, sind ihre einzigen Werkzeuge gegen die
Übermacht dieses Menschen, der sie vollkommen in seiner Gewalt hat, aus der es
kein Entrinnen zu geben scheint. Sie setzt alle professionellen Methoden ihres
Metiers ein, den Kranken emotional zu beeindrucken und psychisch zu
beeinflussen, täuscht schließlich gar Liebe zu ihm vor und verspricht, ihm als
seine Therapeutin Heilung zu bringen, wenn er sie freiläßt. Immer wieder
scheint sie mit ihren Manipulationsversuchen auch Erfolg zu haben, bis sie jedes
Mal erkennen muß, daß er das Spiel umgedreht hat und in Wirklichkeit er der
Manipulierende ist. Mit jedem Versuch, Gewalt über den gefährlichen Mann zu
bekommen, liefert sie sich ihm immer mehr aus. Erschreckender als die
körperliche Gewalt, die Helen erdulden muß, ist der allmähliche Verlust von
Würde und Willen, von Selbstbewußtsein und Selbsterhaltungstrieb, den sie,
eine moderne und gesellschaftlich hoch anerkannte Frau, bis dahin niemals für
möglich gehalten hätte.
Nach und nach erschließen sich Helen die krankhafte Persönlichkeitsstruktur
des Wahnsinnigen und die Hintergründe seines triebhaften Handelns, das ihn zu
einem Serienmörder gemacht hat. Sie begreift, daß er nicht anders kann, als
nun auch sie, wie schon viele andere vor ihr, ganz langsam und schrittweise zu
Tode zu bringen, und daß es gerade diese Langsamkeit des Quälens ist, die ihm
höchste - auch sexuelle - Befriedigung gibt. Die Handlung führt zu
fürchterlichen Szenen an abscheulichen Orten, und bis zuletzt bleibt die Frage
offen, ob es für Helen am Ende doch noch ein Entrinnen aus dem teuflischen
Labyrinth geben wird.
Die Handlung wird im Imperfekt aus der Sicht eines Erzählers mit einer
einheitlichen und gegenüber dem Geschehen und dem Leser neutral gehaltenen
Darstellungsweise entwickelt. Zu dieser Erzählperspektive gehört, daß
zukünftige Ereignisse nicht bekannt sind und also auch niemals angedeutet
werden. So bleibt die Spannung bis zum Schluß erhalten. Aufgebaut und über die
gesamte Länge von 299 Seiten durchgehalten wird die Spannung vor allem dadurch,
daß die männliche Hauptfigur als eine undurchsichtige Persönlichkeit mit
unvorhersehbaren Verhaltensweisen konzipiert ist und daß die Handlung immer
wieder neue und unerwartete Wendungen erfährt. Dazu kommt, daß durch ein in
der zweiten Hälfte des Romans sich verstärkendes Tempo der
Schreckensereignisse eine Komprimierung der Erregungsmomente und eine Zuspitzung
der Dramatik erfolgt, die sich erst auf den letzten drei Seiten plötzlich
löst. Die scheinbar erfolgreichen Manöver Helens, die sich dann aber doch
stets als trügerisch herausstellen, bringen eine zusätzliche Dynamik ins
Spiel. Der Roman beginnt im ganz unspektakulären Alltagsleben und gleitet dann
allmählich immer tiefer in eine unheimliche Welt hinein, die den Leser
zusehends gefangennimmt. Im letzten Kapitel kulminieren die sich schließlich zu
einem Ganzen zusammenfügenden Einzelerkenntnisse wie zu einem machtvollen
Schlußakkord einer Symphonie. Mit den letzten Sätzen läßt die Autorin einen
aufgewühlten und erschütterten Leser zurück.
Der Roman, dem ein einziger, konsequent und bruchlos durchgeführter, in sich
stimmiger Handlungsstrang zu Grunde liegt, ist in neunzehn nicht zu lange
Kapitel gegliedert, deren Titel jeweils einen Schwerpunkt im Handlungsfortgang
bezeichnen. Hin und wieder sind zwischen zwei Kapitel Tagebuchnotizen
eingefügt, in denen vom Erzähler mitgeteilte Ereignisse noch einmal aus der
Sicht des Psychopathen betrachtet werden. Das gibt der Konstruktion die
Andeutung einer zweiten Perspektive.
Dem Tempo des unberechenbaren und aktionsreichen Geschehens entspricht die
sprachliche Form in gelungener Weise: Die Autorin arbeitet viel mit direktem
Dialog, benutzt kurze Sätze und treffende Worte und kann mit sparsamen
sprachlichen Mitteln sehr lebendige Vorstellungen beim Leser erzeugen. In der
wörtlichen Rede differenziert und charakterisiert sie anschaulich die
Wesenszüge der beiden Hauptfiguren und damit auch in überzeugender Weise die
krankhafte Gedanken- und Gefühlswelt des Triebtäters. In kurzen, aber
eindrucksvollen Passagen reflektiert der Text sensibel innere psychische
Vorgänge und besonders Helens dramatisch sich zuspitzende körperliche und
seelische Verfassung. Der Erzählstil entspricht der beabsichtigten
realistischen und sachlichen Darstellung des haarsträubend Grauenhaften. Er
wird einheitlich durchgehalten und ist bei aller Schlichtheit und
Emotionslosigkeit doch wohlgeformt und von künstlerischem Anspruch.
Fazit
Dieser Roman hebt sich wohltuend ab von jenen vordergründig action-orientierten
Horrorschockern der gegenwärtigen Trivialliteratur, die einen fragwürdigen
Zeitgeschmack eines bestimmten Publikums bedienen wollen. Die Autorin hat nicht
die Absicht, eventuelle voyeuristische Bedürfnisse beim Vorführen von
Abnormität, Perversität und Verbrechen zu befriedigen oder gar niedere
Instinkte zu wecken. Die Texanerin hat selbst Psychologie studiert, und man
spürt, daß sie sehr wohl weiß, wovon sie schreibt. Sie erzählt das
Ungeheuerliche mit Redlichkeit und Seriosität und ohne Effekthascherei. Mit
ihrer fiktiven Geschichte, die trotzdem im künstlerischen Sinne durch und durch
realistisch ist, erlaubt sie dem Leser mit dem Blick in die "Höhle"
zugleich einen Einblick in die erschreckenden Abgründe der menschlichen Seele,
in extreme Grenz- und Ausnahmesituationen der menschlichen Existenz und in das
Instrumentarium der wissenschaftlichen Psychologie. Dabei stellt sie die Person
des Kranken nicht als verabscheuungswürdiges Monster dar, wie die
Öffentlichkeit es heutztutage allzu gern tut, sondern als jemanden, der trotz
seiner abartigen Grausamkeit ein Mensch ist, für dessen So-Sein es Ursachen
gibt, der deshalb Einfühlsamkeit, Verständnis und eine Therapie verdient und
dem trotz allem die Menschenwürde nicht abgesprochen werden darf. Sie macht
deutlich, daß die Potenz des Bösen in uns allen angelegt ist und daß wir mit
unserem Verurteilen anderer immer auch das Urteil über uns selber sprechen.
Nicht zuletzt diese zutiefst humanistische Grundhaltung macht den Roman neben
seinen vielen anderen Vorzügen lesenswert. Ich werde ihn in meinem Regal neben
Robert Harris'
"Schweigen der Lämmer" stellen, und sollte er einmal verfilmt wären,
was ich mir sehr gut vorstellen könnte, dann möchte ich Götz George in der
Hauptrolle sehen.
Vorgeschlagen von Eberhard E. Küttner
[Profil]
veröffentlicht am 16. Februar 2003 2003-02-16 16:57:28