Der kleine Johannes wurde als stummes Kind eingeschult. Er war immer nur mit
seiner Mutter zusammen gewesen und hatte kaum Kontakt zu anderen Kindern gehabt.
Als Johannes Mutter irgendwann verstummte, ahmte ihr Sohn sie offenbar nach. Auf
dem Umweg über Notizzettel, die seine Frau den Tag über beschrieben hat,
erfährt Johannes Vater am Abend nach seiner Heimkehr, was sein Sohn den Tag
über erlebt hat. Obwohl sich Johannes jeden Tag ganz besonders auf die
Rückkehr seines Vaters von der Arbeit freut, kann der Vater ihn nicht zum
Sprechen animieren. Der Junge nimmt interessiert auf, was man ihm sagt,
speichert Klänge und Redewendungen ab, sogar die Verknüpfungen dazwischen -
doch mehr geschieht nicht. Johannes beobachtet sehr genau, dass seine Eltern
sich ihm gegenüber anders verhalten als andere Eltern gegenüber ihren Kindern
- und schweigt weiter.
Vater, Mutter und Kind bilden eine kleine, eingeschworene Gemeinschaft, von der
der Sohn als erwachsener Erzähler mit herausragender Liebenwürdigkeit
erzählt. Johannes hat nie etwas anderes gekannt als die Symbiose zwischen ihm
und seiner stummen Mutter. Als Johannes von seiner Mutter Klavierunterricht
erhält wird die Musik schließlich zur Sprache zwischen Mutter und Sohn.
Johannes wird in sehr eigenwilliger Art unterrichtet, er darf improvisieren und
genießt, dass ihm in sein Klavierspielen niemand hineinredet. Erst als
Erwachsener wird Johannes von seinem Onkel erfahren, welche Ursache die
Stummheit der Mutter hat und welche Ängste Grund ihres vereinnahmenden
Verhaltens waren.
Dass ein so ungewöhnliches und entschlossenes Kind wie Johannes schon kurz nach
der Einschulung Probleme in der Schule bekommt, wundert nicht. In den 50ern gab
es weder Schulpsychologen noch Logopäden. Ein Schüler, der nicht zurechtkam,
konnte bestenfalls zur Sonderschule gehen, Schul-Psychologen oder Logopäden, an
die Eltern sich heute wenden könnt, gab es noch nicht. In dieser Situation
fällt Johannes Vater, der bis dahin die häusliche Situation klaglos
hingenommen hatte, eine verblüffende Entscheidung. Er meldet seinen Sohn aus
der Schule ab und zieht mit Johannes für längere Zeit aufs Land zu seinen
Eltern. In idyllischer ländlicher Umgebung betreibt die Familie des Vaters
einen Gasthof mit Landwirtschaft. Hier wird jedes Paar Hände gebraucht, jedes
Familienmitglied in die tägliche Routine eingebunden und Johannes erfährt zum
ersten Mal Anerkennung durch andere Menschen. Auf langen gemeinsamen
Spaziergängen findet der Vater heraus, wie sein Sohn denkt: der Junge kann
gezeichnete Zusammenhänge nachvollziehen und beschreiben. Nur durch die
Verbindung von Bild und Sprache kann er seine Umwelt verstehen. Gemeinsam mit
seinem Vater entstehen nun in zahlreichen Notizbüchern Karten und Skizzen der
erlebten Umwelt mit den dazu gehörenden Erklärungen - und schließlich spricht
Johannes. Als Erwachsener wird Johannes immer noch einen im Kopf verfassten Text
benötigen, um sich ausdrücken zu können.
Die Geschichte des stummen Johannes ist die Geschichte der Kindheit Hanns-Josef
Ortheils. Ortheil lässt seinen Ich-Erzähler, der inzwischen um die 50 Jahre
alt ist, seine Kindheits- Erlebnisse mit Ereignissen der Gegenwart in Rom
verknüpfen. Die Form seines Erinnerns verdeutlicht den Lesern, wie
ungewöhnlich Johannes während seiner Kindheit kommuniziert hat.
Diese von anderen Menschen isolierte Kindheit wurde schon damals von
Außenstehenden bewertet (die den Jungen für einen armen Kerl halten), aber
nicht verstanden. Erst als die Mutter in einem bewegenden Brief an ihren Sohn
bekannt gibt, dass sie sich aus der symbiotischen Beziehung zurückziehen wird,
erkennt Johannes Vater, dass sein Sohn in der Beziehung zur Mutter wie in einem
Gefängnis lebte, dass er als Vater mit seinem Kind hätte sprechen müssen und
die Entwicklung seines Kindes nicht sich selbst überlassen durfte. Für einen
Vater der 50er Jahre ungewöhnliche Einsicht; denn die Vater-Rolle beschränkte
sich damals in vielen Familien auf die Rolle des Ernährers.
Fazit
Ortheils kindlicher Erzähler schildert das Leben in der Großfamilie als
Idylle. Noch nimmt der Junge keine Konflikte wahr. Als Leser vermutet man
weitere Ebenen hinter dem Erzählten und erfährt, dass Johannes es nach der
Rückkehr aus dem großelterlichen Gasthof in die Stadt nicht einfach gehabt
hat. Bei aller Liebenswürdigkeit im Ton habe ich mich gefragt, ob der Autor
sein Schicksal schon immer so versöhnlich angenommen hat wie seine Roman-Figur
Johannes.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 01. Juli 2013 2013-07-01 09:33:40