William Gibson lernte ich mit seinen Cyberpunkromanen kennen und ich hatte
damals die Möglichkeit, ein Interview mit ihm zu führen. Leider gehört dieses
Interview wie verschiedene andere Datensätze zu jenen, die während eines
Festplattencrashs sich ins Datennirwana verabschiedeten. Von Gibson wird gesagt
er sei ein Moralist, der gern den Finger in die Wunde "Moderne" steckt
und so mit den falschen Vorstellungen der überwiegenden Mehrheit der
Bevölkerung aufräumt. Co-Autor Bruce Sterling steht dabei in keinem
schlechteren Ruf. Beide Autoren räumen mit dem Vorurteil auf, der Computer sei
letztlich das Beste, was ein Mensch je erfinden konnte. Die heilsbringende
Maschine wird zu dem degradiert, was sie tatsächlich ist. Viel Metall und
Plastik. Im vorliegenden Roman wird das Plastik durch Holz und Metall ersetzt.
So blenden wir um in ein viktorianisches Grossbritannien, in denen der
tatsächlich lebende Charles Babbage erfolgreich eine Analytical Engine baute.
Die Mutter unserer heutigen Computer.
Das viktorianische London Mitte des 19ten Jahrhunderts in einer Parallelwelt ist
der Ausgangspunkt dieser Erzählung. Sie wird seit einiger Zeit dem Science
Fiction Sub-Genre Steampunk zugeordnet. Doch dies nur am Rande. Das
dampfbetriebene Zeitalter ist angebrochen. Unterstützt wird es durch den
Lochstreifencomputer, den der berühmte Erfinder Charles Babbage 1821 baute. Aus
dieser Erfindung ging die Differenz-Maschine hervor. Seither gehört
Grossbritannien zur grössten Macht der Erde. Die Radikale Partei unter Lord
Byron herrscht. Die industrielle Revolution schreitet seit der Erfindung des
Computers voran. Doch der jähe Fortschritt sorgt auch für Unruhe zwischen der
versnobten Oberschicht und der Arbeiterschaft, die in den Maschinenhallen eher
ihr Leben fristet, denn lebt. Mit dem Commonwealth im Hintergrund steht der
europäische Inselstaat als Grossmacht da. Japan ist eine Kolonie und die USA
sind nicht einmal annähernd das, was der Name bedeutet. Zerfallen in lauter
kleine Einzelstaaten wird Texas von Sam Houston regiert, einer weiteren real
existierenden Persönlichkeit. Der Krimkrieg tobt und andere in unserer Zeit
spielende Ereignisse fanden statt, wenngleich mit anderem Ausgang. Natürlich
gibt es auch Neider und so ist Herr Bonaparte aus Frankreich einmal mehr daran
interessiert, den Erzrivalen zu bekämpfen. Dabei könnte Napoleon doch
zufrieden sein, gehört ihm doch schon fast das ganze Kontinentaleuropa.
Dies ist die Geschichte von mehreren Personen. Sybil Gerard, die Tochter eines
berüchtigten, aber exekutierten Ludditen (Maschinenstürmer) kommt als Hure
daher. Einst der High Society angehörend, ist sie nach dem Tod des Vaters auf
das Niveau einer Edelprostituierten gesunken. Edward Mallory ist ein Entdecker,
Wissenschaftler (Paläontologe) und Rekonstrukteur des sagenhaften
Land-Leviathan, ist die zweite dominante Persönlichkeit wie auch Lady Ada
Byron, die Tochter des Premierministers. Letztere ist ein wahres mathematisches
Genie und Assistentin von Charles Babbage. Laurence Oliphant, Diplomat, Spion
und Ränkeschmied ist der Leiter der Geheimdienstabteilung des
Aussenministeriums. Das Schicksal dieser Personen wird durch einen
geheimnisvollen Lochkartenstapel bestimmt, der sehr mächtig sein soll. Denn
damit könnte die Differenzmaschine zu einem eigenen Bewusstsein gelangen.
Fazit
Die Differenz-Maschine untersucht die sozialen Konsequenzen der industriellen
Revolution. Jedoch mit dem Unterschied, dass sie eine fiktive Revolution zum
anlass nimmt. Es gibt bereits genügend Untersuchungen über den Aufstand der
Weber und den damit einhergehenden Veränderungen in der Gesellschaft. Mit dem
vorliegenden Roman wird eine konstruierte Geschichte zum Anlass genommen, ein
Ergebnis zu erzielen. Allerdings ist sind beide Voraussetzungen, Gesellschaft
und Untersuchung, fiktiv und damit nicht Aussagekräftig. Neben dieser rein
theoretischen Ausrichtung, die die beiden Autoren sogar anders sehen mögen,
findet sich natürlich eine spannende Handlung. Neid, Liebe, Hass, Verrat, Treue
gedeihen auf der fiktiven Welt genauso wie in der Wirklichkeit. Mit den
Handlungsträgern sehen wir in Lord Byron die Spitze der Gesellschaft und in
Sybil Gerard den Boden. Die Gesellschaft selbst gründet sich auf der
technokratischen Regierung Byrons und einer Anbetung des Maschinengottes
Differenz-Maschine. Ähnlich wie in Geschichten von Schriftstellern des
viktorianischen Grossbritannien, sehen wir eine elendige Vison eines
industriellen Landes, dass die Natur als gegeben, aber eher lästig hinnimmt.
Damit ist die Erzählung ein Widerpart der Romantiker aus der Mitte des 19ten
Jahrhunderts.
Wer den Roman um die Maschinenstürmerin Sybil gut verstehen will, sollte
zumindest über gute Allgemeinbildung und ein wenig über Computer und das Leben
um 1875 im alten Europa verstehen. Wer sich nicht so gut auskennt, dem entgeht
zwar keine gute Geschichte, aber gute Anspielungen. Etwa, wenn man den
Kommunisten / Marxisten Karl Marx in den kapitalistischen Teil Amerikas
verfrachtet, wenn man Ideologien etwas verballhornt und anderes mehr. Wie in
anderen Romanen ist die Technik nicht die Heilsbotschaft, sondern die Wurzel
allen Übels. Die Konflikte unter den Menschen werden weder weniger noch
friedlicher. Das Buch ist in der Tat gelungen, die Handlung vielschichtig und
der Leser muss seinen Grips anstrengen, wenn er der Handlung folgen will. Ein
schwieriges Buch, ein lesenswertes und kritisches Buch.
Vorgeschlagen von erik schreiber
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veröffentlicht am 28. Juni 2013 2013-06-28 10:42:15