William Gibson wird immer wieder als Erfinder des Cyberpunk genannt und daher
erwartet man von ihm ähnliche Romane, ohne zu berücksichtigen, dass sich ein
Autor auch weiterentwickelt. Er greift in seinem Roman immer wieder auf Ideen
aus dem Cyberpunk zurück, dennoch ist sein neuer Roman alles andere als ein
Science Fiction Roman. Die Bezeichnung, "ein furioser
Wirtschafts-Thriller" wie er auf dem Rückseitentext bezeichnet wird,
trifft das Buch sehr gut. System Neustart ist ein Buch, in dem nicht sehr viel
passiert. Allein für sich ist das Buch ein interessantes Werk, in Verbindung
mit Mustererkennung und Quellcode bietet die Trilogie um Hubertus Bigend (Big
End) jedoch einen Gegenwartsroman, der es in sich hat. Im Mittelpunkt steht
wieder der mysteriöse belgische Bigend, auf der Suche nach neuen Produkten. Je
länger man den Spuren von Bigend folgt, desto mehr wird aber aus dem
"normalen" Gegenwartsroman eine Erzählung, die ein wenig Zukünftiges
anbietet, jedoch mehr Wissenschaftliches zu bieten hat.
Im Mittelpunkt des Werkes stehen geheime Marken. Nur durch eine gelungene Mund
zu Mund Propaganda werden neue Marken im Bereich der Kleidung bekannt gemacht.
Mode wird interessanter, wenn sie nicht jeder trägt, aber jeder haben will. Auf
diese Weise verkauft sich die neue Mode. Je mehr von der ungewöhnlichen Mode
erfahren, um so mehr wird diese zum Kultgegenstand. Der Modeschöpfer, der Geld
verdienen will, geht aber nicht etwa an die breite Öffentlichkeit, sondern
bedient sich des überall erreichbaren Internets. In den richtigen Blogs,
Newslettern und Ähnlichem mehr verbreitet, stürzt sich die Webgemeinde schnell
auf das IN-Produkt. Denn jeder will dabei sein. Für den Modeschöpfer jedoch
winkt Geld, viel Geld und dieses Geld weckt Begehrlichkeiten an anderer Stelle.
Mit den neuen Jacken und Hosen erhofft sich das Militär eine neue Grundlage
für seine Uniformen. Und wo ein Grossabnehmer winkt, winkt grosses Geld
zurück. Einer der diesen Wink versteht ist der belgische Mikro-Marketing-Mogul
Hubertus Bigend.
Ort der Handlung ist das britische London, mit Abstechern in das französische
Paris und das amerikanische Süd Carolina. Während so die Grenzen territorial
abgesteckt sind, öffnen sich diese innerhalb des Internets. Aus den
vorhergehenden Romanen Mustererkennung und Quellcode treten die ehemalige
Rocksängerin Hollis Henry und der auf Entzug gewesene Milgrim auf. Hollis Henry
schrieb ein Buch über locative arts, während Milgrim auf einem bezahlten
Entzug in einer teuren Schweizer Spezialklinik war. Wobei Hubertus Bigend den
Aufenthalt in der teuren Entzugsklinik nicht unbedingt aus Nächstenliebe
finanzierte. Milgrim, Ex-Junkie und Spezialist für Beschaffungen ausserhalb
legaler Wirtschaftswege, ist nun von der Gutmütigkeit Bigends abhängig. Hollis
und Milgrim sollen für ihn den Designer finden, der mit der Jeans-Bekleidung
die Kultmarke Gabriel Hounds entwarf. Mit zum Team gehört eine Motorradbraut
namens Fiona, die ehemalige Schlagzeugerin Heidi Hyde und Garreth, Hollis'
Geliebter. Beim aberwitzigen Versuch vom höchsten Gebäude der Welt zu springen
wurde er von einem Auto angefahren. Sein verletztes Bein enthält jetzt einen
Knochen aus Rattan. Die amerikanische Armee nutzt ihn als Versuchsobjekt, um
Amputationen zu verhindern.
Die Klamotten unter dem Label Gabriel Hounds gibt es überall im Internet, etwa
bei Ebay, jedoch nur die gefälschten Labels. Insider wissen hingegen, wo sie
Hounds kaufen können, die echten. Das label ist IN, aber scheinbar nicht zu
erhalten. Der Name der Hose ist nicht wichtig, wenn es um das Produkt an sich
geht. Unter Berücksichtigung des Kleidungskultes, des 20ten Jahrhundert, in der
die Militärbekleidung in den Strassenalltag der Grossstädte Einzug hielt, geht
es darum, an lukrative Aufträge für die US Armee zu kommen. Ob es nun die
Tarnbekleidung der amerikanischen Soldaten oder der Parka der deutschen
Bundeswehr oder das Palästinensertuch ist, überall finden sich
Kleidungsstücke militärischer und para-militärischer Einheiten. Ist jetzt die
militärische Kleidung wichtiger, als der Mensch darin? Im Laufe der Suche nach
dem Designer kommen Konkurrenten in den Weg, um vielleicht vorher noch den
lukrativen Kuchen für sich zu gewinnen und nicht teilen zu müssen. Als kleine
Gruppe exzentrischer Menschen macht sich auf die Suche nach dem Designer hinter
Gabriel Hounds. Nur sehr wenige Eingeweihte wissen, wann und wo man die
handgemachten Einzelstücke kaufen kann, die nach Mode-Schnitten aus den 50er-
und 60er-Jahren angefertigt wurden und aus hochwertigsten Materialien bestehen.
Fazit
Innerhalb der Handlung werden klassische Thrillerelemente, wie etwa eine
Entführung und ein Gefangenenaustausch beschrieben. Andererseits finden sich
geplante Einsätze, die nach einem engen Zeitplan ausgeführt werden sollen und
natürlich die üblichen Zufälle, die dafür Sorge tragen, dass eine Handlung
einen ungeahnten Bogen macht und so für Überraschungen sorgt. Gleichzeitig
lässt William Gibson in der Erzählung offen, in welchem Zusammenhang wer dabei
mit wem zusammenarbeitet. Gleichzeitig treten sehr viele Personen auf, die
dafür Sorge tragen, den Leser etwas zu verwirren. Dies gilt natürlich auch
für die Handlungsträger. Nachher herrscht zwischen allen Beteiligten ein
allgegenwärtiges Misstrauen. Die gilt vor allem weil in der Öffentlichkeit des
wirklichen Lebens und erst recht in der undurchsichtigen aber allgegenwärtigen
Welt des Internets, nichts unbeobachtet, verborgen und kein Handeln spurenlos
bleibt.
Übrig bleibt eine leicht chaotisch wirkende Welt des Konsums und des
Konsumterrors durch die grossen Firmen. Das Buch sorgt dafür, dass kaum noch
jemand einen klaren Durchblick hat, wer nun was genau wo sucht und gegen wen er
sich zur Wehr zu setzen hat. Einen zentralen Part spielt sicherlich Milgrim.
Jahrelang lag er in einem Entzugskoma, wo er nichts mitbekam, was die Welt
betraf. So ist er einerseits entwöhnt, kennt aber die Droge, alles haben zu
wollen, was neu und IN ist, nicht. Um so deutlicher wird klar, dass der
ehemalige Drogensüchtige, dem Leser eine Art Spiegel vor die Nase hält, in dem
er sich erkennen kann. Die Frage, die sich stellt, dem Handlungsträger, wie dem
Leser, ist doch, welchen Wert messe ich bestimmten Dingen zu?
Die Welt des Autors William Gibson ist nicht einfach zu beschreiben. Ist System
Neustart ein Thriller, in dem es um Industriespionage geht, geheime Labels und
die Anwendung von Marketing und Gegen-Marketing? Ein Roman um Überwachung und
Bewachung? Ein Science Fiction Roman hart an der schmalen Grenze zur Gegenwart?
Die heutige Science Fiction wird anscheinend nicht von Maschinen beherrscht,
sondern von Meinungen und Meinungsmache. Was immer es ist, es ist immer noch
grossartig.
Vorgeschlagen von erik schreiber
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veröffentlicht am 14. Mai 2013 2013-05-14 15:45:35