Es kommt selten vor, dass ich zwei Bücher nacheinander lese, die mich in etwa
gleich berühren. Noch dazu zwei Debütromane. Doch nach Wo Milch und Honig
fließen von Grace McCleen ließ mich auch Wendy Wunders Debütroman Flamingos
im Schnee erst los, als ich die letzte Seite gelesen hatte. Und auch hier muss
ich sagen, diese kam viel zu schnell. Wobei loslassen übertrieben ist, denn
dieser Roman ist eins der Bücher, die man nicht so schnell vergisst.
Wunders Roman ist eigentlich todtraurig. Wer nah am Wasser gebaut hat, sollte
sich vorsichtshalber Taschentücher bereitlegen, obwohl die Autorin gänzlich
auf Melodramatik verzichtet und ihre Figuren darüber hinaus trotz der ernsten
Thematik nicht in völliger Verzweiflung versinken lässt. Ein Hauch Fantasy
verhindert dies ebenfalls, ohne der Geschichte die Glaubwürdigkeit zu nehmen.
Eine Geschichte, die im Grunde, abgesehen von dem einen oder anderen Detail,
jedem von uns geschehen könnte.
Im Fokus steht die im glitzernden Schaustellermillieu eines Vergnügungsparks
aufgewachsene Campbell. Ihr Vater verstarb früh. Mit dem neuen Partner der
Mutter kann sie nicht wirklich etwas anfangen. Aber das ist auch nebensächlich,
denn tatsächlich deutet gleich zu Beginn des Romans alles darauf hin, dass das
Mädchen den Kampf gegen den seit Jahren in ihrem Körper tobenden Krebs
verloren hat. Mit dieser Diagnose will sich ihre Mutter nach wie vor nicht
abfinden. Es gelingt ihr Cam zu überreden, an einen Ort zu fahren, der
angeblich wahre Wunder und womöglich sogar eine Chance auf Heilung bringen
kann. Obwohl Cam eigentlich längst aufgegeben hat, fahren sie und ihre jüngere
Schwester gemeinsam mit der Mutter los.
Einfühlsam und nachvollziehbar, unpathetisch und bildhaft beschreibt die
Autorin die Gefühle, die sowohl die Krankheit als auch dieser letzte Versuch,
sich der tückischen Krankheit entgegenzustellen, mit sich bringen.
Die jahrelange Krankheit hat dafür gesorgt, dass Campbell keine wirkliche
Jugend hatte. Sie wirkt gleichermaßen erwachsen wie pubertär. Das wird schnell
klar, denn Wunder stößt ihre LeserInnen gleich mitten ins Geschehen. Bringt
gleich anfangs eine Liste mit Dingen ins Spiel, die Cam und eine ebenfalls
todkranke Freundin noch erleben wollen. Die Art und Weise, wie Wunder Cam und
ihre Freundin beschreibt, gibt sehr treffend wieder, was ich bei betroffenen
Patienten und auch selbst erlebt habe. Selbstironie und verzweifelter Sarkasmus,
eine gewisse Kaltblütigkeit und der stete Versuch, sich selbst Hoffnung zu
verbieten. Dies wird - im Buch, wie im realen Leben - von verzweifelten
Angehörigen und Freunden unterlaufen, die genau diese Hoffnung immer wieder
aufs Neue anregen wollen. Ebenfalls sehr stimmig ist die Stärke, die Cam
ausstrahlt. Der Versuch andere vor der grausamen Wahrheit zu schützen. Oder das
Bedürfnis schreien zu müssen, weil man in Watte gepackt wird. Und dann das
blindwütige Um-sich-schlagen im übertragenen Sinn, weil Cam genau weiß, wie
sie andere verbal oder durch bestimmte Handlungen verletzen kann. Weil niemand
außer ihr das Offensichtliche sehen will. Der Versuch, keine Ängste und
Schwächen zuzulassen, weil das den Schutzwall zu sprengen droht, den sie um
sich aufgebaut hat und der sie aufrecht hält.
Einerseits ist Cams Darstellung dadurch etwas distanziert, doch im Bezug auf die
Krankheit gesehen so in sich stimmig, dass LeserInnen einfach mit ihr fühlen
müssen. Genau wie mit ihrer Mutter, die versucht, den Spagat zwischen dem
drohenden Verlust ihrer Tochter und dem Alltag zu bewältigen. Oder Cams kleiner
Schwester, die stets zu kurz kommt, weil Cams Krankheit im Vordergrund steht.
Doch dies sieht Cam genau genommen erst einige Zeit nach der Ankunft in Promise.
Dort durchlebt nicht nur sie eine Wandlung. Plötzlich dreht sich nicht mehr
alles nur um sie und ihre Krankheit. Andere Dinge rücken in den Vordergrund.
Cam kann sogar den anfangs unmöglichsten Punkt auf ihrer Liste (ihre
Entjungferung) abhaken und zwischen ihr und Asher, der in Promise lebt, bahnt
sich eine zarte Beziehung an, obwohl Cam ihren teils verletzenden Sarkasmus
nicht wirklich ablegt. Sie erlebt Dinge, die es sich zu erleben lohnt. Und
während bei ihr ein Umdenken in Richtung Hoffnung einsetzt, vollzieht sich ein
unmerklicher Umbruch im Fühlen ihrer Schwester und Mutter. Es werden Dinge
ausgesprochen, die sie sich eingangs des Romans vermutlich nie gesagt hätten.
Unerwarteterweise musste ich an mehreren Stellen laut lachen. Etwa als Cam ihrer
Schwester ein Einhorn präsentieren will. Cams Sarkasmus hatte teilweise
ebenfalls diesen Effekt, andererseits hätte ich das Mädchen stellenweise am
liebsten geschüttelt.
Fazit
Wunder hat Realität mit märchenhaften Fantasy-Elementen gemischt. Das könnte
kitschig und melodramatisch wirken, tut es aber nicht. Vielmehr geht es um eine
Heilung der besonderen Art. Um Akzeptanz und Loslassen. Um inneren Frieden. Um
Zusammenhalt und Perspektivwechsel. Um Hoffnung und Ehrlichkeit. Flamingos im
Schnee ist ein berührendes Debüt, welches wie Wo Milch und Honig fließen die
volle Punktzahl verdient. Ein lesens- und empfehlenswerter Roman für jüngere
und ältere LeserInnen.
Copyright ©, 2013 Antje Jürgens (AJ)
Vorgeschlagen von Ati
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veröffentlicht am 24. April 2013 2013-04-24 11:27:52