Gestern Abend begann ich ein Buch und konnte es nicht mehr aus der Hand legen,
bis ich (viel zu schnell) auf der letzten Seite ankam. Viel Schlaf bekam ich in
der vergangenen Nacht also nicht. Zu verdanken habe ich dies dem Debütroman von
Grace McCleen, in dem sie eine ebenso wundervolle wie erschreckende Geschichte
erzählt.
Die in Wales geborene Autorin lebt heute in London. Ihr Roman Wo Milch und Honig
fließen erscheint in über 20 Ländern und wurde mit dem Desmond Eliot Prize
ausgezeichnet. Mir hat er so gut gefallen, dass ich hoffe, dass der zweite in
Arbeit befindliche Roman bald auf den Markt kommt. McCleen studierte Englische
Literatur und bereits ein flüchtiger Blick auf ihre Homepage verrät ihre
Vielseitigkeit. Neben dem Schreiben betätigt sie sich auch als Sängerin,
Songwriterin und Malerin. Und wie Judith, ihre 10jährige Hauptfigur in Wo Milch
und Honig fließen, fertigt sie kleine Figuren an.
Die von Judith leben in einer Welt, die das Mädchen aus Dingen gefertigt hat,
die für andere allenfalls Müll sind. Häuser aus Keksschachteln, Wolken aus
Watte, das Meer besteht aus einem alten Spiegel. Das Mädchen hat viel Fantasie.
Doch trotz dieser Fantasie ist Judiths Welt wenig freudvoll. Durch den Tod ihrer
Mutter muss sie nicht nur auf diese verzichten, sondern lebt von klein auf mit
dem Schuldgefühl, für eben diesen Tod verantwortlich zu sein. Ihr Vater, in
seinem Schmerz gefangen, scheint sie nicht lieben zu können. Viel zu sehr ist
er auch mit seinem Dienst für den Glauben verwachsen. Der drohende
Weltuntergang lässt ihn zusammen mit Judith und anderen Glaubensgenossen von
Haustür zu Haustür ziehen, in der Hoffnung so viele Menschen wie möglich zu
retten.
Bereits dabei hatte ich schwer zu schlucken, denn Judith lebt quasi von Geburt
an in dem Glauben an das baldige Ende. Erschwerend hinzu kommt, dass ihre
Lebensweise sie zur Außenseiterin (nicht nur) in der Schule macht. Permanent
drangsaliert und zu häufig sich selbst überlassen, zieht sie sich so oft sie
kann in das Land der Zierde zurück. Jene Welt, von ihr selbst erschaffen, in
der sie die Kontrolle über alles hat und etwas bewirken kann. Doch bald scheint
sie direkt mit Gott kommunizieren zu können und das, was sie in ihrem Land der
Zierde erreicht, scheint überaus reale Auswirkungen zu haben.
Gleichermaßen faszinierend wie beklemmend offenbart sich Stück für Stück die
Welt, in der Judith und ihr Vater leben. Faszinierend im Bezug auf Judiths
Gedankenwelt und ihre Kreativität. Beklemmend, weil nicht nur ihr Alltag
erschreckend reale Vorkommnisse beinhaltet, die überall und allzeit gleich in
unserer unmittelbaren Umgebung geschehen (können). Emotionen und
Schutzmechanismen treten zutage, die nicht immer hilfreich, aber absolut
nachvollziehbar sind. Beklemmend auch, weil von allen Erwachsenen, die Judith
umgeben, einzig eine Lehrerin willens scheint genauer hinzusehen und zu helfen.
Weil Judith aufgrund ihrer Geschichte gar nicht in der Lage ist, einfach auf
kindliche Weise Hilfe anzunehmen.
Judith offenbart sich als sehr tiefgründig, stellenweise auch humorvoll, dann
wieder leicht ironisch, hilfsbereit und bescheiden, altklug und manchmal
philosophisch. Ihre Gedanken sind einerseits sehr erwachsen, da ihr Tagesablauf
ihr wenig Zeit lässt, Kind zu sein. Von einem fröhlichen Kind ganz zu
schweigen. Andererseits hat McCleen einen sehr gelungenen Übergang zu Judiths
naivem, kindlichen Blick geschaffen. Beispielsweise als sie beim Predigen an
einer Tür klingeln und eine junge drogensüchtige Frau öffnet. Judith selbst
bemerkt die Drogensucht an sich nicht. Aber durch ihre Augen bemerken sie
McCleens LeserInnen sehr wohl. Etwa durch die Erwähnung von Blutspuren und
Stichstellen zwischen den Zehen. Genauso gekonnt formuliert die Autorin die
Repressalien, die Judith und ihr Vater bald tagtäglich erleben. Sie spricht sie
an, ohne sie konkret zu erwähnen und doch kann man sich als LeserIn genau
vorstellen, was in diesem Moment passiert. Ängste und Nöte spürt man ebenso
deutlich wie Hilflosigkeit und Wut. Man leidet (nicht nur) mit Judith mit. Doch
bei allem was sie erleben, hebt das junge Mädchen seinen Blick auch auf
einfühlsame Weise. Bemerkt die eventuellen Hintergründe für bestimmte
Verhaltensweisen anderer. Versucht Verständnis zu empfinden und Wutgedanken zu
kontrollieren. In Wo Milch und Honig fließen ist Judiths Welt also nicht
einfach nur schematisch schwarz-weiß gezeichnet, nicht willkürlich in gut und
böse geteilt. Vielmehr wird sehr deutlich, dass eine Medaille immer zwei Seiten
hat.
Der Glauben spielt in diesem Buch eine große Rolle. Wer bis jetzt noch nicht
viel über Jehovas Zeugen weiß, wird nach der Lektüre von McCleens Roman mit
Sicherheit schlauer sein. Die Autorin baut Bibelzitate ein, die Argumentations-,
Sicht- und Lebensweise dieser Glaubensgemeinschaft. Was anfangs fast zu viel
wirkt, bildet jedoch eine wichtige und stimmige Grundlage für die eigentliche
Geschichte.
Die handelt von Mobbing und Psychoterror. Von Einsamkeit und Hilflosigkeit. Von
einem tiefgläubigen Menschen, der seinen Glauben zu verlieren droht. Von
täglicher Gewalt und den Verlierern moderner Gesellschaften. Gleichzeitig hält
man jedoch auch einen Roman in Händen, der leisen Humor, Ironie, Fantasie und
Hoffnung enthält. Der eloquent aber niemals belehrend Dinge anspricht, die wie
bereits erwähnt direkt um uns herum geschehen (können). Der von Mut handelt
und davon, bestimmte Vorgänge nicht einfach so hinzunehmen. Von eigenständigem
Denken und was die Kraft der Gedanken bewirken kann.
Vollbringt tatsächlich Gott Wunder durch Judith? Oder kommen hier nur einige
Zufälle zusammen und ihre Gespräche mit Gott entspringen einer Psyche, die
unter dem Druck des Erlebten zusammenbricht? Die Interpretation bleibt McCleens
LeserInnen letztlich selbst überlassen, denn das Ende der Geschichte hat sie
genauso überraschend wie passend gestaltet.
Fazit
Ungewöhnlich, aber empfehlenswert. Ein leicht lesbares, aber keineswegs
einfaches Buch. Eine Geschichte, die berührt und überzeugt. Mit authentisch
wirkenden Charakteren in einer vielleicht fremd wirkenden aber durchaus echt
anmutenden Welt. Eine, die LeserInnen mitfiebern und -fühlen lässt. Eine, die
nachdenklich macht. Von einer Autorin, die es versteht, vieles anzusprechen,
ohne es explizit zu erwähnen. Ein sehr gelungenes Debüt, das die volle
Punktzahl verdient
Copyright ©, 2013 Antje Jürgens (AJ)
Vorgeschlagen von Ati
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veröffentlicht am 12. April 2013 2013-04-12 15:35:23