Marcel Reich-Ranicki, der "Literaturpapst" unseres Landes, hat seinen
mit Spannung erwarteten "Kanon" an Geschichten von Wolfgang von Goethe
bis Peter Bichsel vorgelegt. Er enthält wirklich lesenswerte Werke.
Reich-Ranicki schreibt in seinem Vorwort: "Für beide Anthologien [er
bezieht sich auch noch auf seine Anthologie an Gedichten von Walter von der
Vogelweide bis heute] gilt in gleichem Maße, daß die von mir ausgewählten und
gesammelten Gedichte und Geschichten keinen Anspruch auf irgendeinen der so
beliebten und so oft mißbrauchten Superlative bilden wollen." Hier seien
Geschichten versammelt, die den Literaturkritiker beeindruckt und gefallen haben
und heute noch gefallen. Das Buch vereint 70 Jahre Beschäftigung mit der
deutschen Literatur.
Und dies ist ganz wichtig: im Gegensatz zu Harenberg oder der Zeit-Bibliothek
der besten 100 Bücher wird hier nicht ein Kompendium der Weltliteratur
vorgelegt, sondern es handelt sich ausschließlich um Titel aus der deutschen
Literatur. Wenn man sich die Anthologie näher anschaut, so bemerkt man, dass
bei Goethe, Hebel, Hoffmann, Kleist, den Brüdern Grimm, Heine, Büchner, Storm,
Keller, Schnitzler, Mann, Walser, Kafka, Roth, Brecht, Seghers, Koeppen, Frisch,
Böll, Dürrenmatt, Aichinger, Fühmann, Lenz, Walser, Kunert, Bernhard, Musch
und Bichsel wichtige und wegweisende, jedoch nicht alle wichtigen Autoren der
deutschsprachigen Literatur versammelt sind. Schiller, Hauff, La Motte-Fouque,
Eichendorff, Droste-Hülshoff, Tieck hätte ich gerne gesehen, von den modernen
Autoren Ingeborg Bachmann oder Günter Grass hätte ich gerne gesehen. Insofern
scheint mir der zweibändige Band: "Deutsche Erzähler" (Band 1
ausgewählt von Hugo von Hoffmannsthal, Band 2 von Marie Luise Kaschnitz [auch
sie vermisse ich in Ranickis Anthologie] für wesentlich repräsentativer, was
die Auswahl deutscher Erzähler angeht. Auch fehlen mir Ranickis - sicherlich
auch umstrittene Interpretationen, wie er sie in seinem Werk: "Deutsche
Gedichte" vorgelegt hat.
Fazit
Aber: "Liebe sollte der Urtrieb aller Anthologien sein" zitiert
Reich-Ranicki den hervorragenden Essayisten Hermann Kesten im Vorwort - und hier
sehen wir nun wirklich, wen Marcel Reich-Ranicki mag - und dies lohnt den Kauf -
und die erstmalige oder erneute Lektüre der darin versammelten Erzählungen.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 24. November 2003 2003-11-24 20:03:22