Kürzlich warf ein Bekannter einen Blick auf meinen SuB. Als er Der
Krebskandidat entdeckte, flammte sein Interesse auf, glaubte er doch, dass es
darin um den von William B. Davis in Akte X gespielten, anscheinend stets
rauchumwölkten Krebskandidaten ginge. Ich habe den darauf folgenden
begeisterten Ausführungen zur Filmfigur nur mit halbem Ohr gelauscht und mich
stattdessen nochmals entsetzt über die Inhaltsangabe des Buches hergemacht.
Obwohl ich so ziemlich alles lese, kann ich nicht behaupten, Akte-X-Fan zu sein.
Einen Roman über eine Figur daraus wollte ich auch nicht unbedingt lesen.
Während mein Bekannter mein mangelndes Interesse absolut nicht nachvollziehen
konnte, durfte ich jedoch erleichtert aufatmen. In Edwin Kleins 2012 beim
SWB-Verlag herausgegebenen Roman geht es glücklicherweise um etwas ganz
anderes.
1967 wurde Klein Deutscher Juniorenmeister im Hammerwurf. In den folgenden
Jahren durfte der ehemalige Leichtathlet noch mehrmals das Siegertreppchen
besteigen und nahm auch an den Olympischen Spielen 1972 und 1976 teil. Nach
Beendigung seiner Sportlerkarriere war er als Gymnasiallehrer tätig. Seit 1990
arbeitet er als freier Autor. Aus der Feder des 1948 bei Trier geborenen Edwin
Klein, der auch unter dem Pseudonym Ed Elkin schreibt, stammen über 20 Bücher,
z. T. in mehreren Auflagen und Sprachen, sowie etwa ein Dutzend
Drehbuch-Exposés. Kleins Spektrum reicht von Sach- über Kinderbücher hin zu
Biografien. Auch actionorientierte Polit-Thriller, angesiedelt im nationalen wie
internationalen Milieu, sind dabei.
Der Krebskandidat handelt von Philipp. Der kann sich offenbar ohne medizinische
Behandlungen selbst heilen. Die Pharmaindustrie interessiert sich für ihn,
birgt doch Philipps genetische Veranlagung die Chance, ein Mittel gegen die
todbringende Krankheit entwickeln zu können. Dadurch steht sein Leben von heute
auf morgen Kopf und ihm werden verlockende Angebote gemacht. Doch bei Weitem
nicht jeder sieht in der Ergründung seines Geheimnisses einen absoluten Segen.
Faktisch drohen der Pharmaindustrie herbe Verluste, weil sich mit gesunden
Menschen kein Geld verdienen lässt. Philipp wird zu einem Problem ...
Diese spannende Grundidee offenbart sich nach einem schnellen Blick auf die
Rückseite des Buches. Wer vermutet, dass sich Klein ausschließlich auf Philipp
und seine wundersame Veranlagung bzw. auf die sich für ihn ergebenden Folgen
konzentriert, wird schnell eines Besseren belehrt. Tatsächlich spielt er eine
genauso große oder kleine Rolle wie alle anderen Charaktere, die man im Buch
findet. Egal ob es sich um seine Freundin Gilla handelt, die ihn irgendwann
managt, da ihm die Sache recht schnell über den Kopf wächst. Seinen Freund und
Hausarzt Holger oder Gillas Ex-Freund und Computercrack Kurt. Peter Farmer, den
Chef eines großen Pharmaunternehmens, dessen als Wissenschaftlerin tätige
Geliebte, seinen zwielichtigen Sohn Walter, seinen profitgierigen Schwiegervater
oder dessen gleichgesinnte Freunde, die im Hintergrund ähnlich
Marionettenspielern die Fäden ziehen. Da gibt einen Fremdenlegionär und dessen
Helfer, die sich für andere die Hände schmutzig machen. Und noch etliche
weitere Charaktere, mal mehr mal weniger beleuchtet, zwischen denen der Autor
munter hin und her springt.
Auch bei den Handlungsorten spart Klein nicht. Er schickt seine Figuren an
verschiedene Orte in Europa, in den Vereinigten Staaten von Amerika und auf dem
afrikanischen Kontinent und lässt sie eine Fülle an Dingen erleben, Aktionen
planen und ausführen, verlieren und gewinnen. Die 382 Seiten sind wirklich
prall gefüllt mit Erzählsträngen, die sich einander unterschiedlich
temporeich nähern und wieder auseinanderdriften, ohne dass einer dieser
Stränge verloren geht oder offen endet. Sie handeln auf den ersten Blick zwar
durchaus von Philipp, mehr jedoch von den überaus korrupten, absolut
profitgierigen, machthungrigen und erschreckend menschenverachtenden Motiven
derjenigen, die an der Spitze großer Pharmaunternehmen stehen. Wer Freund oder
Feind ist, erschließt sich dabei nicht gleich auf den ersten Blick.
Ein Ideenszenario ganz nach meinem Geschmack. Eigentlich. Denn tatsächlich
handelt es sich bei Der Krebskandidat um ein Buch, das mir nach einem
interessanten Auftakt einiges an Durchhaltevermögen abverlangte. Mehrere Male
war ich kurz davor, es endgültig vor der Lektüre des letzten Kapitels beiseite
zu legen. Immer wieder stolperte ich über die gleichen Schwachstellen und
brauchte, was bei mir extrem lange ist, sechs Wochen, bis ich besagtes Kapitel
beenden konnte. An der Grundidee lag es nicht, denn die finde ich nach wie vor
spannend. An den vielen Informationen, die man im Bezug auf Krebserkrankungen
und Untersuchungsmethoden ganz nebenbei erfährt, ebenso wenig. Firmenpolitische
Erwägungen, Intrigen und Verwirrspiele, Anschläge und Rückschläge - all das
hätte mich grundsätzlich fesseln können, wäre es denn anders beschrieben
worden.
Obwohl ich nicht behaupten kann, dass mir irgendeine der Figuren absolut
unwirklich vorkam, blieben mir durchweg alle fremd. Sympathie, Antipathie und so
etwas wie Mitgefühl kam allenfalls ansatzmäßig auf.
Das erklärt sich nicht nur damit, dass der Autor sich diverser Klischees
bedient und seine der Figuren alle hypergescheit und umfassend informiert
gestaltet. Es liegt sicherlich auch daran, dass lebendige Dialoge fehlen. Zu
vieles spielt sich in den Köpfen der Figuren ab. Ihre Gedankengänge wirken
abgeklärt-distanziert, muten fast wie abstrakte Selbstgespräche an. Teils sind
es auch Selbstgespräche, die dazu noch allzu häufig im Konjunktiv I formuliert
wurden. Selten habe die Worte werde, solle, müsse oder könne in einer
derartigen Fülle gelesen. Unterschiede zwischen den Figuren kann man hier kaum
erkennen. Dadurch scheint die Geschichte insgesamt eher präsentiert zu werden,
als sich zu entwickeln. Kommt es tatsächlich zu einem Dialog, artet dieser
allzu schnell in etwas aus, dass sich am besten als Fachsimpelei beschreiben
lässt. Die ist zwar durchaus interessant, wirkt jedoch trocken. Emotionen gehen
auf diese Weise zudem vollkommen unter. So habe ich beispielsweise angesichts
der Gefahr, in der Philipp sich im Laufe der Geschichte befindet, keine Angst
bei ihm erkennen können, da er sich durchweg rational verhält. Auch Gillas
Verhalten erscheint eher gewinnorientiert als andeutungsweise besorgt. Wut wird
erwähnt, doch erstickt keine der Figuren daran, machen sie sich doch sofort und
überaus vernunftbegabt an die Umsetzung von eventuellen Rachegelüsten.
Auch die bildhafte Beschreibung der Handlungsorte fehlt oder geht, sofern sie
denn vorhanden ist, in allzu anschaulichen Ausführungen mit Sachbuchcharakter
unter. Klein erwähnt viele Vorkommnisse aus dem realen Leben, verknüpft sie
mit seiner Romanhandlung. Beides finde ich grundsätzlich spannend und
interessant. Allerdings zog sich das Geschehen in diesem Fall stellenweise
unerträglich in die Länge, gerade aufgebaute Spannung flachte schlagartig
wieder ab. Letzteres auch deshalb, weil sich durch die Perspektivwechsel eine
gewisse Vorhersehbarkeit einschlich.
Hinzu kommt, dass die Figuren - Philipp und Gilla sozusagen als Normalbürger,
Farmer als Chef eines riesigen Konzerns, Walter als sein Handlanger oder der
Fremdenlegionär der für Geld alles tut - über Ressourcen und Möglichkeiten
verfügen, die sie fast auf gleicher Augenhöhe operieren lassen. Und, obwohl
der eine schlauer und gewiefter ist als der andere, Fehler machen und Dinge
außer Acht lassen, die ebendies in Frage stellen. Kriminelle Machenschaften
werden durch Verträge ausgebremst und die wiederum durch kriminelle
Machenschaften ausgehebelt. Sinn und Zweck mancher Aktion bleiben so mitunter
fast auf der Strecke.
Grundsätzlich - Roman hin oder her - wirken Kleins Gedankengänge zu den
profitorientierten Interessen der Pharmaindustrie im Medikamentenbereich nicht
völlig unglaubwürdig. Dazu gab es in der Vergangenheit bereits zu viele
entsprechende Skandale. Krankheit ist ein wesentlich lukrativeres Geschäft als
Gesundheit. Allerdings wirkt der von ihm präsentierte Erzählstrang bezüglich
der vordergründig angestrebten Herstellung DES MEDIKAMENTS gegen Krebs
grundsätzlich ebenso wie der mehrfach im Buch angesprochene, eng gesteckte
zeitliche Rahmen etwas weit hergeholt.
Das Ende hat mich dennoch in gewisser Weise völlig überrascht, wobei ich mich
hier nicht auf das letzte Kapitel im Buch beziehe. Doch insgesamt betrachtet ist
die Idee des Drahtziehers hinter allem zu konstruiert-bemüht. Die Motivation
ist zwar klar herausgearbeitet und angesichts des enormen Gewinns für diese
Figur auch nicht gänzlich unglaubwürdig. Doch die Entwicklung beruht
einerseits auf zu vielen geschickten Planungen und andererseits auf allzu
passenden Zufällen. Hätte der Hausarzt nicht reagiert, wäre ein weiterer Arzt
nicht in Aktion getreten. Wäre dieser nicht in Aktion getreten, hätte Philipp
niemals den ersten Schritt in die Öffentlichkeit gemacht. Ohne diesen Schritt
wäre aber die Folgereaktion nicht zu erwarten gewesen und so weiter. Die
drahtziehende Figur im Hintergrund scheint einzig und allein einfach alles
bedacht zu haben, selbst die Reaktionen von Konkurrenten. Praktischerweise
denken jedoch sowieso nur amerikanische und deutsche Pharmaunternehmen ernsthaft
daran, die ebenso verblüffende wie hoffnungsmachende Anomalie Philipps
gewinnbringend für sich zu nutzen.
Fazit
Der Autor spannt einen detailverliebten weiten Bogen ausgehend von einer
Krebsdiagnose und den daraus resultierenden Entwicklungen, über erschreckende
Testreihen und gewinnbringende Falschmeldungen sowie Versuchen an Menschen bis
hin zur Gier nach Macht und Reichtum, die alles überstrahlt. Das grundsätzlich
interessante Ideenszenario verliert jedoch an Reiz angesichts der
Gedankenfülle, die der Autor zum Ausdruck bringt. Einiges wirkt zu komprimiert.
Anderes eindeutig zu ausführlich. Insgesamt nicht immer spannend, aber auch
nicht durchgehend langweilig. Richtig gut gefiel mir das Buch nicht, da es mir
zu viel Durchhaltevermögen abverlangt hat. Wirklich schlecht fand ich Kleins
Roman jedoch keinesfalls, weshalb ich sechs von zehn Punkten dafür vergeben
möchte.
2013 Antje Jürgens (AJ)
Vorgeschlagen von Ati
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veröffentlicht am 05. Februar 2013 2013-02-05 16:30:29